Unternehmen Wahnsinn
Dagegen fällt auf, dass immer noch sehr viele Mitarbeiter – Führungskräfte wie Sachbearbeiter – gerne knifflige Probleme und echte Aufgaben knacken, die Nachdenken erfordern. Jeder, der in ein »Think Tank« seiner Organisation eingeladen wird, begreift das zunächst als Ehre. Es bleibt nun mal attraktiver, sich mit realen Problemen, Herausforderungen, Aufgaben professionell und argumentativ zu befassen als nur zwischen Applaus und Buh-Rufen wählen zu können, wenn sich auf der Bühne die Business-Showstars ein Spektakel der Illusionen liefern. Und eben nicht der Aufklärung.
Oft bleibt denen, die ihren Verstand selbstständig zu gebrauchen wissen, als Rolle im Organisationsspiel nur, den dummen August zu geben: ursprünglich eine Figur, die als Tölpel neben der Gegenfigur des weisen, klugen Clowns eingesetzt wurde. Dieser August wird mehr und mehr zum eigentlich Klugen, der in einer verdrehten Welt mit seinen »dummen Fragen« die richtigen, die wunden Punkte trifft. Dabei ist er geschützt, weil er seine Intelligenz hinter Harmlosigkeit versteckt. Es könnte für ein Unternehmen hilfreich sein, unterscheiden zu können zwischen Zynikern, denen, die innerlich gekündigt haben, und dem einen oder anderen gar nicht so dummen August.
Aufbau und Pflege selbstständigen Denkens
Dafür braucht man: Werkzeug, Gelegenheit und Motiv. (Rein zufällig das, was auch ein Verbrecher braucht und was ihn als solchen überführt.)
– Das Werkzeug:
In erster Linie ist dieses die Achtung vor der eigenen Fachdisziplin, gerade in Zeiten der wuchernden Interdisziplinarität. Die eigene Fachdisziplin – sei es Physik, Philosophie oder Tontechnik – ist wie eine Sprache, die erlernt und benutzt werden muss, um Fachspezifisches überhaupt erkennen und ausdrücken zu können. Rudimentäre Kenntnisse helfen vielleicht beim Smalltalk auf der Vernissage, sind aber nicht geeignet, filigrane Problemlösungen zu entwickeln oder überhaupt nur ein Problem zu verstehen.
Um Grenzüberschreitungen in andere Disziplinen hinein produktiv gestalten zu können, muss das Fundament des Fachwissens stabil sein. Da heute kaum noch ein Wissenschaftsprojekt Gelder bekommt, wenn es nicht interdisziplinär aufgesetzt ist, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Arbeit innerhalb von Disziplinen ins Abseits gerät. Damit gehen aber die Basis-
elemente der Forschung verloren. Um den Nutzen von Grenzüberschreitungen fruchtbar zu machen, muss man eben jene Grenzen erst einmal ziehen und ernst nehmen. Nur ein echter Informatiker und eine echte Biologin, die die ganze Weite, aber eben auch die Differenzen ihrer zwei Theoriesprachen in einen Diskurs einbringen, werden zu einem neuen dritten Inhalt gelangen, der im Niveau oberhalb liegt. Andernfalls lassen sie sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und Kenntnisstand nieder; jeder redet überall mit, man versteht sich(!) blendend – aber nicht das Thema.
– Das Motiv, also die zugrunde liegende Haltung:
Robert K. Merton, einflussreicher empirischer Soziologe
aus den USA hat in den 1930er-Jahren 90 – die neue nationalsozialistische Art, mit Wissen und Denken umzugehen vor Augen – vier Kriterien definiert, die echte von unechter Wissenschaft unterscheiden. Diese Unterscheidungen gelten auch für das freie Denken. Ihnen ist auch heute noch nichts hinzuzu-
fügen:
1. Communitarianism: Wissen und Denkergebnisse stehen
allen zur Verfügung.
2. Universalism: Die Bewertung von Forschungsergebnissen erfolgt unabhängig von Klasse, Ethnie, Geschlecht etc. des Forschenden.
3. Disinterestedness: Antriebsfeder ist nicht der Eigennutz, sondern die Leidenschaft für Erkenntnisgewinn, Neugier und das Interesse am Wohlergehen der Menschheit.
4. Organized skepticism: Widerspruch – also das Ausbüchsen aus der Kollegenherde – wird sozial unterstützt. Sowohl die einzelnen Methoden wie die Forschungs- und Denkinstitutionen im Ganzen sind so gestaltet, dass abschließende Urteile immer wieder hinterfragbar bleiben.
– Die Gelegenheit zum wirklich eigenständigen Denken.
Das heißt schlicht immer mal wieder: Ruhe, Einsamkeit und Konzentration. Lange genug, damit sich etwas im eigenen Kopf entwickeln und verdichten kann. »Thinking means concentrating on one thing long enough to develop an idea about it. Not learning other people’s ideas, or memorizing a body of information, however much those may sometimes be useful. Developing your own ideas«, meint der Literaturkritiker William Deresiewicz in
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