Unternehmen Wahnsinn
befriedigtes Bedürfnis, und sein Erregungspotenzial ist geringer. Auch der Kontrollverlust durch Ärger ist ein anderer, er ist kurz und nicht umfassend.
Wut ist archaisch. Es ist der heftigste und damit un-vernünftigste Affekt. Seneca, der Stoiker, verurteilt sie in seinem Traktat »De ira« als die schlimmste Gefühlsregung, weil die Vernunft hier gar nichts mehr ausrichten kann. Wut ist im Vergleich mit dem Ärger die persönlichere Emotion. Sie entsteht aus einer tiefen Kränkung, einer widerfahrenen Ungerechtigkeit. Sie ist gerade nicht die stressbedingte eruptive Entladung anlässlich einer Lappalie, sondern gründet in einem echten persönlichen Getroffensein.
Auch die Empörung ist von ganz anderer Qualität als die Wut, viel weniger intensiv. Sie brandet auf bei einem Verstoß gegen übergeordnete, für Konsens gehaltene Regeln. Außerdem ist der Empörte sich immer einig mit vielen anderen Empörten. Wer dagegen in Wut gerät, ist aggressiv gestimmt und alles andere als einvernehmlich. Der Wut fehlt auch jede Besserwisserei. Bei den Empörten, den Protestierern, den Zornigen findet sich oft die »Auf-mich-hört-ja-keiner-Haltung« des Bescheidwissens. Ressentiments gegen die »da oben« (Gier) oder die »da unten« (Hängematte), gegen den Kapitalismus und die heutigen Zustände (wahlweise zu dekadent oder zu grausam), gegen das Internet (Verdummung) oder gegen die »Gutmenschen« (naiv) gehören zum Empörungsrepertoire des zeitgenössischen Arbeitslebens.
Die Wut dagegen weiß nicht, was gut ist. Sie kennt keine Argumente und Belege. Sie bricht auf und schreit, weil etwas getroffen wurde. Oft weiß sie selbst nicht, was. Wegen ihrer Unberechenbarkeit hat sie nicht das beste Renomée. Nicht nur Seneca und den Stoikern stieß sie unangenehm auf. In den meisten Kulturkreisen gilt sie als Ausdruck unangemessenen Sozialverhaltens. Heute, im Zeitalter der Erfolge, des Selbstoptimismus, der blendenden Supermänner und -frauen ist Wut ein ganz und gar anachronistisches Gefühl. Sie ist uncool, weil unsouverän. Sie outet den Wütenden als jemanden, den etwas wirklich berührt, der etwas zu nah an sich herangelassen hat. Zu ungeschickt aber auch.
Die Wut ist ganz offensichtlich problem-, nicht lösungsorientiert. Sie ist nicht proaktiv, sondern zutiefst reaktiv. Sie sucht keine Lösungen, sie schreit einfach NEIN.
Immerhin attestiert die Psychologie, dass langfristig unterdrückte Wut zu Depressionen, Essstörungen und Alkoholismus führen kann. Ähnlich wie permanenter Stress kann sie krank machen. Ausbrechende Wut hat also immerhin psychohygienische Effekte.
Die gute Wut
Durchgehend positiv wird die Wut fast nur in einem, dafür allerdings hochinteressanten Kontext gesehen. Sie spielt eine wichtige Rolle in der Missbrauch-Präventionsarbeit bei Kindern und Jugendlichen. Den Anzeichen von Gefühlen, gerade auch von Wut, zu trauen, gilt als wichtige Prophylaxe gegen Grenzüberschreitungen jeder Art. Wo der Missbraucher dem Kind gegenüber formuliert oder anderweitig subtil zu verstehen gibt: »Sei doch vernünftig(!). Das ist doch alles ganz normal. Sei kein Spielverderber. Außerdem glaubt dir das eh keiner …«, da ist einzig ein heftig einsetzendes Wutgefühl, so es noch nicht wegzensiert wurde, geeignet, eine fatale Entwicklung zu stoppen. Alle Aggression, alle Un-Vernunft, alle Kraft wird hier gebraucht, um in einem perfide angelegten, asymmetrischen Verhältnis eine Grenze zu ziehen und sich zu schützen.
Es gibt auch andere ungeheuerliche Situationen, in denen nicht direkt eine Alternative gefunden werden kann, sondern zuallererst eine Unterbrechung not tut. Ganz ohne Rücksicht, ohne Verhandlung, ohne Verstand und ohne Verständnis. Und trotz der begleitenden Scham, die sich meist nicht eliminieren lässt. Und trotz des berechtigten Zweifels, ob es nicht doch auch andere Wege gegeben hätte, als sich so zu entblößen. Lösung hat eben immer auch etwas mit loslösen, loslassen, abbrechen zu tun. Sie setzt oft den brutalen Schnitt voraus, wird erst möglich nach einem radikalen »Unterbruch«. So nennen die Schweizer die »Unterbrechung« und bringen damit ihre Wucht noch deutlicher zum Ausdruck.
Eine neue Agenda
Es kann sein, dass die Wut bloß psychohygienisch gut tat. Sie hat nur den Kragen und nicht den ganzen Körper, den Geist oder die Seele platzen lassen. Und ein Wutausbruch weist auch nach, dass der Wuthaber noch nicht zur Rechenmaschine degeneriert ist. Es kann aber auch sein, dass
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