Unternehmen Wahnsinn
. 4. Aufl. UTB 2000.
33 Ute Frevert, Historikerin und Direktorin des Max-Planck-Instituts in einem Interview in der Wirtschaftswoche vom 11.11.2008.
34 In einem Essay der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 20.12.2009 über das zurückliegende Finanzkrisenjahr.
Therapie 3: Selber denken
Empfohlen wird u.a.: Wissen und Meinen klar zu unterscheiden; Empirie nicht ad acta zu legen; Ingeborg Bachmann; sich öfter mal etwas Einsamkeit zu gönnen.
Ein Hoch auf Marie de Gournay
Immanuel Kant, der Kampagnenmanager der Aufklärung, meinte trocken: »sapere aude!« Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Es kann nicht schaden, sich ab und an in Erinnerung zu rufen, welche zivilisatorische Leistung mit der Aufklärung verbunden ist; und welche die Alternativen waren und wieder sein könnten: Unwissenheit, Dummheit und eine Form von Ausgeliefertsein, die mächtige Meinungsmacher das auf den Scheiterhaufen werfen lässt, was ihnen nicht in den Kram passt.
Marie de Gournay, 1565–1645, französische Schriftstellerin, Philosophin und Frauenrechtlerin, ältestes von sechs Kindern einer verarmten Familie des französischen Landadels, durfte nie eine Ausbildung machen, hatte aber den von Kant geforderten Mut im Übermaß. Sie las heimlich Bücher, weigerte sich zeitlebens zu heiraten und wurde, als Autodidaktin, eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit. Während in Europa Frauen noch als »Hexen« getötet wurden, wetterte sie gegen die obligatorische Verdummung der Frauen als »Geschlecht, dem man alle Güter versagt […], um ihm als einziges Glück und ausschließliche Tugend die Unwissenheit, den Anschein der Dummheit und das Dienen zu bestimmen«.
Worum geht es also? Darum, sich gerade auch in Zeiten der Schwarmintelligenz 85 seiner ureigenen individuellen Kraft zu besinnen. Hatten wir im vorangehenden Kapitel noch das gemeinsame Tun im Fokus, wollen (und müssen) wir beim Denken naturgemäß die Eigenständigkeit betonen, die wirksam vor Manipulation und Abhängigkeit ebenso wie vor Selbstgefälligkeit schützt. Dass eigenständiges Denken eine eigene Form der Tapferkeit verlangt, sah auch schon der bedeutende Literaturkritiker Lionel Trilling Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Er stellte fest, »dass die Moderne von der Angst des Einzelnen geprägt ist, nur eine einzige Sekunde von der Herde getrennt zu sein.« 86
Ein Lob also der Gedankenarbeit, insbesondere der logischen, die zwar nicht in jeder Problemlage angebracht oder ausreichend ist, aber doch eine faszinierende und erstaunlich omnifunktional einsetzbare geistige Tätigkeit ist. Und dazu unsere menschlichste und zugleich unendliche Fertigkeit bleibt. Sie ermöglicht Prüfung und Kontrolle, die nicht auf Gegnerschaft beruht. Denken kann zu einer verstehenden Zustimmung führen, die nicht Glauben heißt, es kann finden, entdecken, erkennen. Es hilft, sowohl eine Haltung zu entwickeln, wie dieselbe zu überprüfen. Nur das Denken kann die Perspektive wechseln, keine andere Funktion des menschlichen Kompetenzapparates kann das. Zukunft kann vor-gedacht, Vergangenheit kann nach-gedacht werden. Eigenes, Fremdes, Reales, Irreales, Geträumtes, Gewünschtes, Alles und Nichts kann denkend bearbeitet werden. Denken ist zu jeder Zeit und an jedem Ort machbar, ohne jedes technische oder sonstige Hilfsmittel. Denken kann assoziativ, stringent, logisch, lax, träge oder rasiermesserscharf sein. Es kann zerteilen oder zusammenfügen, spielen und experimentieren. Und es kann inspirieren und ermüden, wie andere Tätigkeiten auch.
Denken ist nicht recht haben
Wissen ist nicht meinen. Und ein Argument ist nicht dasselbe wie ein Interesse. Diese Unterschiede sind wichtig, damit ein dysfunktionaler Diskurs verhindert werden kann. Diese Unterschiede werden zurzeit allerdings vehement und gezielt verwischt.
Obwohl sich das Recht auf Gebrauch des Verstandes seit den Zeiten der Marie de Gournay allgemein durchgesetzt hat und die Voraussetzungen, an Bücher und anderes Informations- und Lernmaterial zu kommen, sich fast überall in der Welt verbessert haben, ist zu konstatieren, dass viele es vorziehen, dumm zu bleiben. Aber trotzdem recht haben wollen.
Wie kann so etwas heute passieren, wo doch mehr Menschen denn je Zugriff auf unendlich viele Fakten haben? Trotz Rund-um-die-Uhr-News, Dauer-Gezwitscher, RSS-Feeds 87 und mobilem Internet denken 20 Prozent der Amerikaner, dass ihr Präsident Moslem ist. Zwei Jahre zuvor waren es nur elf Prozent. 88
In den USA
Weitere Kostenlose Bücher