Unterwegs im Namen des Herrn
jeden, der kommt. Doch man merkt, dass diese Menschen keinen Respekt haben vor der Eucharistie. Sie gehen herum!«
Sie schaut in den Raum.
»Und eines sage ich Ihnen: Es wird eine Zeit kommen, in der uns die Andersgläubigen auf die Pelle rücken werden. Schauen Sie sich die Moslems an, die sammeln sich!«
Rundum Nicken.
»Wir wollen zurückkehren zum Thema Sünde. Was für andere Menschen, die nicht wissen, was sie da sagen, Abtreibung heißt, ist nichts anderes als Euthanasie. Ist Mord eine Sünde? Was ist das – Mord?
Wissen Sie, was eine Mutter hört, wenn sie ihr Kind abtreiben lässt?
SIE HÖRT DAS KIND SCHREIEN ! Das Kind schreit in ihr: Mama, bitte lass mich leben! Und sie …«
Vor dem Haus hat es ungefähr 25 Grad mehr als drinnen. Ich schleppe mich durch diese unbegreifliche Hitze Richtung Restoran Pivnica. Ich fühle mich angeekelt, vor allem niedergeschlagen. Da und dort mache ich bei einem Souvenirstand halt. Ich denke über das nach, was ich gerade erlebt habe. Ungefähr dreißig Jesusse schauen mich an, noch einmal so viele Gospas schauen leidend auf mich herunter. Mir ist das unheimlich, ich gehe weiter. Allerdings hilft das nicht viel, denn beim nächsten Souvenirstand sieht es nicht anders aus. Überall starrt mich Jesus an, überall schaut die Gospa auf mich herunter.
Mir fällt ein Erlebnis aus meiner Kindheit ein. In meinem atheistischen Elternhaus war Religionsunterricht verpönt, und das Innere von Kirchen kannte ich nur aus Filmen oder von Abbildungen in Büchern. Trotzdem ging ich ab und zu hin, heimlich, als ich etwa zwölf oder dreizehn war und darüber hinaus sehr unglücklich und ohne jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich schlich durch die Kirche, roch den Weihrauch, selten sah ich Menschen. Ich betrachtete den Gekreuzigten, weinte hin und wieder, ein- oder zweimal schrieb ich mit Kugelschreiber meineninnigsten Wunsch an eine kalte glatte Wand, auf der schon eine Vielzahl von Bitten anderer Hilfesuchender stand. Ehe ich ging, studierte ich das Gesicht von Jesus an seinem Kreuz, jenes von Maria auf ihrem Sockel in der Ecke, wie sie auf mich herabsah, ohne mich direkt anzusehen. An diesen Blick erinnere ich mich, hier und jetzt auf der heißen Straße in Medjugorje, so wie ich mich zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren an diese Nachmittage erinnere, an denen ich so einsam war, wie ich es um nichts in der Welt je wieder sein möchte.
Ingo sitzt im Restoran, vor sich eine ganze Batterie von Gläsern. Es ist fünf. Wenn wir die Messe miterleben wollen, haben wir noch zwei Stunden. Der nette Kellner kommt und empfiehlt mir die Pizza als Spezialität des Hauses. Ich bestelle Pizza und Bier, Ingo ebenfalls. Ich erzähle ihm in wenigen Sätzen, was ich erlebt habe, dann erzählt er mir von seiner Fototour. Er ist mit allem hier radikal unzufrieden.
»Nur nicht aufgeben«, sage ich, »wir halten durch. Morgen gehen wir auf den Berg …«
»Gar nichts halte ich durch! Und der Berg kann mir sowieso gestohlen bleiben!«
»Dann stolperst du im Leben und fallst!«
»Ist dir klar, wie die Rückfahrt in diesem Bus aussehen wird? Zurück dauert es nämlich zwei Stunden länger, wegen Sonntag und Verkehr und Staus an den Grenzen! Das bedeutet sechzehn Stunden Fahrt! Sechzehn! DA stolperst du und fallst!«
»Reden wir morgen darüber. Heute schauen wir uns die Messe an. Das ist ganz sicher aufschlussreich.«
Ingo brummt etwas. Ich verstehe nur, dass er das Wortaufschlussreich mit einer Obszönität kombiniert. Die Pizza kommt, wir wechseln das Thema.
Während des Essens bemerke ich, wie Ingo einen Löffel einsteckt.
»Ingo, was tust du da?«
»Ich stehle einen Löffel.«
»Ingo, wieso stiehlst du einen Löffel?«
»Mache ich überall. Das sind schöne Andenken. Ich habe Löffel aus der Hofburg, aus dem japanischen Kaiserpalast, aus dem türkischen Präsidentenbüro, aus der Privatvilla von Berlusconi …«
»Da passt ja ein Gospalöffel gut dazu.«
»Ich habe sogar einen Teelöffel aus dem Buckingham Palast. Du solltest dir auch so eine Sammlung zulegen, das ist lustig. Was man da alles zusammenkriegt …«
»Ingo, ich bin nicht der Hofschriftsteller des Bundespräsidenten, ich kann nur Löffel vom Kulturkreis Güstrow nach Hause bringen.«
»Auch sehr aufschlussreich.«
Mein Telefon läutet, mein Vater ist dran. Er verbringt seinen Urlaub in Mostar und will, dass ich ihn besuche. Er macht diesen Vorschlag nicht zum ersten Mal, und nicht zum ersten Mal
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