Unterwegs im Namen des Herrn
erkläre ich ihm, dass ich mich auf einer Wallfahrt befinde und mit dem Bus nach Wien zurückfahren muss. Zwar ist Mostar nur dreißig Kilometer entfernt, aber eben in eine der Heimat entgegengesetzte Richtung. Und selbst wenn ich Zeit hätte, würde eine solche Reise meine momentanen psychischen Kapazitäten übersteigen. Außerdem weiß ich, dass mein Vater überall die sonderbarsten Leute kennt, und er kennt sie nicht nur, sondern schleppt sie auch an, und das kann anstrengend sein. Amallerärgsten fand ich die Episode mit dem Zöllner, der in seiner Bude Schlangen hält, denen er spaßeshalber in Schnaps getränktes Fleisch zu fressen gibt. Man sitzt in dieser Wohnung, sieht einen feixenden Irren vor sich, hört das Zischeln der potentiell todbringenden Viecher und hat Panik. Mein Vater hockt währenddessen auf dem Schrank und findet das alles lustig.
Ich lege auf, das Telefon läutet wieder, es ist meine Frau. Ich würde ihr gern sagen, was ich hier erlebe, aber jammern gilt nicht. Dabei schwitze ich wie ein Schwein, ich habe unglaubliches Kopfweh, ich sehe Leute auf der Straße, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Die übergewichtigen Mittfünfzigerinnen mit den abgezehrten leeren Gesichtern, die zur Gottesmutter fahren, zur Gospa, zur Königin des Friedens. Die dicke ältere bulgarische Frau mit der Stoppelfrisur und dem großen Silberkreuz um den Hals. Die mageren, freudlosen Männer, alle schmutzigen Gedanken tief in ihrem Kopf vergraben. Niemand spricht. Niemand feiert.
Um halb sieben beginnt die Menge Richtung Kirche zu strömen. Wir sind unsicher, sollen wir uns vorher umziehen oder es bleiben lassen? Ingo ist für das Umziehen, ich für das Bleibenlassen. Als er jedoch zum Hotel geht, gehe ich mit.
Er duscht, ich dusche, dann streife ich das leichteste T-Shirt über, das ich besitze, es zeigt einen Mann mit blutender Nase, und darunter steht: Cocain blows . Ingo kriegt einen Lachanfall, als er es sieht.
»Bitte nicht! Bitte zieh das aus!«
»Na, schön ist es nicht, aber …«
»Es geht nicht um schön oder nicht schön, es geht darum, dass du so noch vor der Kirche verhaftet wirst!«
»Hast du hier schon einen Polizisten gesehen?«
»Die sieht man nicht immer.«
»Schriftsteller, 38, wegen T-Shirts in Bosnien verhaftet.«
»Na, wie du meinst. Aber eines sage ich dir: Auf mich darfst du nicht zählen, wenn es Probleme gibt.«
»Mach gute Fotos, das genügt.«
Der erste Mensch, der mir auf dem Hotelflur in die Quere kommt, ist natürlich die alte Fundamentalistin, die bei meinem Anblick tatsächlich große Augen macht. Ich muss daran denken, dass die Arme auf dieser Reise keine geistige Unterstützung erfährt, weil sie das Pech hatte, von mir aus dem Reiseleiterhut gezogen zu werden. Also, ihr Name, nicht sie. An irgendetwas muss ich sie erinnert haben, denn sie dreht sich um und geht in ihr Zimmer zurück.
Auf dem Weg zur Kirche treffen wir den Kappenmann. Anders als sonst zieht es ihn nicht an Ingos Seite, und auch der Liliputaner hält Abstand. Die Messe scheint schon im Gange zu sein, wir hören auf dem Kirchenvorplatz die übliche einfältige Kirchenmusik, die Gottesdienste in unseren Breiten begleitet.
Ingo schießt ein paar Fotos, dann erreichen wir den Platz hinter der Kirche, wo soeben ungefähr zwanzigtausend Menschen ein fremdsprachiges Gebet begonnen haben. Weiter vorne sehe ich, wie vom Tennislehrer angekündigt, einen Mann mit Amtskappenglatze, der auf Knien über den Kies Richtung Altarpodium rutscht.
Ingo sagt, er würde auf Motivsuche gehen, und wir verabreden uns in einer Viertelstunde an derselben Stelle. Er verschwindet nach hinten, ich schlendere durch die Reihen und betrachte die Gesichter der Menschen. Deswegen bin ich ja auch hier, ich will verstehen, was sie antreibt, ob sie sosind wie ich, ob sie mir gar nicht so fern sind, wie ich denke. Das ist es, was ich mir wünsche. Doch die Gesichter sagen mir wenig. Sie sind leer. Das gefällt mir nicht, weil es allen Vorurteilen entspricht, die Leute wie ich hegen. Ich würde gern etwas sehen, was es mir ermöglichen würde, mich ihnen wenigstens auf eine leise Art verbunden zu fühlen, etwas, was mich mit ihnen mitfühlen lässt, etwas, was mich mit dem Glauben an sich versöhnt.
Der Reiseleiter hat uns nahegelegt, bei Tiberias Radios zu kaufen, mit denen man die Übersetzungen der Messe anhören kann. Ich habe es nicht getan und fühle mich nun bestätigt, denn die Texte sind so einfach, dass ich fast alles
Weitere Kostenlose Bücher