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Unterwegs im Namen des Herrn

Unterwegs im Namen des Herrn

Titel: Unterwegs im Namen des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Pistole erinnert.
    »Na, du schaust aus«, sagt er. »Wir müssen reden.«
    »Frühstücken müssen wir.«
    »Wir müssen nicht frühstücken. Wir müssen reden. Aber zieh dir was an, mein Bedarf an Anblicken dieser Art ist fürs erste gedeckt.«
    Während ich mich anziehe, bekomme ich von Ingo eine Zusammenfassung der Lage geliefert. Es sieht so aus, als wäre das Haus leer, abgesehen von Zvonko und Ivica, die sich in die Haare gekriegt haben, was nicht so schlimm wäre, wenn sie nicht beide bis obenhin voll mit Goran-Ivanisevic-Schnaps und anderen toxischen Substanzen wären.
    »Na und?«, sage ich und streife mir das einzige frische Hemd über, das ich noch habe. »Wir rufen ein Taxi und sind weg.«
    »Da liegt das Problem«, sagt Ingo und beginnt meine Sachen ungeordnet in den Koffer zu werfen. »So wie ich Ivica verstanden habe, wird er uns zum Flughafen bringen.«
    »Er? Persönlich?«
    »Genau.«
    »Mit seinem Auto, meint er?«
    »So ist es. Und wenn du nicht weißt, was du dir darunter vorzustellen hast, wenn ich sage, jemand ist VOLLKOMMEN unzurechnungsfähig, dann geh ihn dir anschauen.«
    »Meinst du?«
    »Ich packe einstweilen deine Sachen.«
    »Wir dürften es ja wirklich eilig haben.«
    Entschlossen, Ivica seine Idee auszureden, mache ichmich auf die Suche nach ihm. Zuerst stoße ich jedoch auf Zvonko, der in der Tür zum Feigenzimmer steht und mich höhnisch angrinst.
    Ich habe nicht das Gefühl, dass er mich erkennt. Er sieht schrecklich aus. Seine Züge sind verzerrt, er ist kreidebleich, sein Mund steht offen, Speichelfäden ziehen sich zwischen Ober- und Unterlippe. Er reagiert jedoch auf mich, er setzt sich in Bewegung und folgt mir mit einigem Abstand, und ich fühle mich nicht wohl dabei.
    »Weißt du, wo Ivica ist? Ivica! I-vo!«
    Er bleibt stehen, stiert mich an, grinst. Ein unartikulierter Laut kommt über seine Lippen, der wie das Scheuen eines Pferdes klingt. Er schnalzt mit der Zunge. Als ich das Feigenzimmer auf der anderen Seite verlasse, steht er immer noch da.
    »Ivica! Ivica!«
    Ich gehe hinauf in den zweiten Stock, wobei ich möglichst laut trample, damit Ivica sich nicht erschreckt und mich über den Haufen schießt.
    »Ivica! Ich bins, Thomas! Wo steckst du?«
    Die meisten Türen stehen offen, in den Zimmern sieht es wüst aus. Ein wenig erinnert mich die Situation an den Morgen in Medjugorje, als die anderen schon das Hotel verlassen hatten und nur Ingo und ich übriggeblieben waren. Ohne jegliche Hemmung durchsuche ich alle Räume, begegne Ivica jedoch nirgends, so dass ich mir nicht anders zu helfen weiß, als Ingo anzurufen und zu fragen, wo sich dieser Mensch aufhält.
    »Vorhin war er noch auf der Terrasse«, sagt er.
    »Wo ist die Terrasse?«
    »Draußen.«
    Sie ist wirklich leicht zu finden, weil sie sehr groß ist. Und da liegt er, da liegt ein hundertfünfzig Kilogramm schwerer kleiner Mann in einer Hängematte, die zwischen zwei in die Terrasse integrierte Bäume gespannt ist. Ich finde so etwas ja furchtbar, ich will keinen echten Baum in meiner Wohnung haben, aber im Augenblick bereitet mir dieser Anblick weniger Kopfzerbrechen als der Anblick, der mich in der Hängematte erwartet.
    Ivica trägt eine dunkelrote Jogginghose und Cowboystiefel. Seine mit nackten Frauen und Autos und Fußballemblemen tätowierte Brust ist nackt. Er sieht mir direkt ins Gesicht, seine Unterlippe ist trotzig vorgeschoben, seine Augen sind weit aufgerissen. Unter der Hängematte stehen zwei leere Flaschen mit dem Konterfei des berühmtesten kroatischen Tennisspielers, überall liegen Zigarettenstummel, in einem Teddybären steckt ein riesiges Kampfmesser, und auf den Holztisch dahinter hat sich jemand erbrochen.
    »Ivica«, sage ich sanft, »wir möchten uns bedanken und verabschieden. Wir müssen aufbrechen.«
    Er starrt mich an. Was er tatsächlich wahrnimmt (und ob er überhaupt etwas wahrnimmt), kann ich nicht einschätzen. Unter Garantie hat er nicht eine Sekunde geschlafen, und mit Sicherheit ist sein Verstand abgeschaltet. Er starrt und starrt, und ich will mich schon umdrehen und gehen, da öffnet er den Mund und sagt einen Satz auf Kroatisch, von dem ich nur den Namen Zvonko verstehe.
    »Zvonko ist unten. Er kommt später sicher zu dir. Wir fahren jetzt. Ingo sagt dir auch Danke.«
    Nun kommt langsam Leben in seinen Blick. Er bewegt sich ein wenig, die Hängematte wackelt wie vom Sturm gebeutelt.
    »Ingo? Was – wohin fahrt?«
    »Zum Flughafen. Wir fliegen nach Wien

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