Unterwegs in der Weltgeschichte
zeitweise auch im Kampf gegen den Papst, den er in Worms noch dadurch glücklich zu machen suchte, dass er über Luther die Reichsacht verhängte; im Kampf gegen den Erzfeind Frankreich; vor allem aber gegen die Türken, die 1529 bis vor die Tore Wiens gefährlich vorrückten, nachdem sie schon ganz Ungarn verheert hatten. Bei so viel Regierungsstress ist es kein Wunder, dass dieser Weltenherrscher sich 1556 frustriert ins spanische Kloster Yuste zurückzog und die Herrschaft über Spanien und die Niederlande seinem Sohn Philipp, die Kaiserkrone aber seinem Bruder Ferdinand überlieÃ.
In Yuste soll er fast täglich an der Verbesserung einer technischen Innovation herumgebastelt haben: an Uhren, deren Mechanismus er in absoluten Gleichlauf zu setzen suchte. Letztlich vergeblich, was ihm aber als tröstliches Symbol dafür galt, dass nichts auf dieser Welt in Einklang zu bringen sei â die Uhren nicht und schon gar nicht die Menschen.
Und wenn Sie sich noch tiefer in den Seelenzustand eines frustrierten Kaisers der Lutherzeit einfühlen wollen, dann sollten Sie jetzt unbedingt in ein Musikgeschäft gehen. Da finden Sie unter der Rubrik »Moderne Klassik« etwas ganz Passendes, das der ungarische Komponist György Ligeti 1962 unter dem Titel »Poème Symphonique« veröffentlicht hat: ein Konzertstück für hundert unterschiedlich tickende Metronome. Genauso verrückt muss bereits die Welt in Karls Ohren »getickt« haben.
Ãbrigens hat auch Luther ganz ähnliche disharmonische Erfahrungen gemacht. Aber er hatte wohl die stärkeren Nerven. Dauernd hatte er mit der Uneinigkeit seiner Protestanten zu kämpfen.
Da waren die Täufer, die als »Wiedertäufer« verspottet wurden und denen Luthers Reform nicht weit genug ging. Sie forderten eine staatsfreie Kirche und lehnten die Säuglingstaufe als unbiblisch ab. Taufen lassen soll man sich erst als mündiger Erwachsener, meinten sie.
Luthers reformatorischer Kollege Ulrich Zwingli (1484 bis 1531) sorgte zwar in Zürich dafür, dass diese furchtbaren Ketzer sich nicht ausbreiteten, widersprach aber Luther seinerseits heftig in einem anderen Punkt: in der Abendmahlslehre.
In Genf gab es einen Reformator der zweiten Generation namens Johannes Calvin (1509â1564), der auf überstrenge Kirchenzucht setzte, jeden Luxus und jede Leichtigkeit des Herzens als Sünde brandmarkte und auÃerdem zur radikalen Ausrottung aller Hexen aufrief. Auch ihm war Luther viel zu lasch.
Selbst im heimischen Wittenberg begannen dessen radikale Anhänger, die schönen Kunstwerke aus den Kirchen herauszureiÃen und damit revolutionäre Freudenfeuer zu entfachen. Keine Kompromisse! So eine Reformation darf keine halbe Sache sein, meinten sie. Die leibeigenen, unzufriedenen Bauern wiederum missverstanden Luthers Lehre »Von der Freiheit eines Christenmenschen« als Aufruf zum gesellschaftspolitischen Umsturz. Genau wie die verarmten Reichsritter, die im beginnenden Kampfgetümmel frische Morgenluft witterten und ihre sterbende Mittelalterwelt kriegerisch reanimieren wollten â fast ähnlich dem deutschen Adel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dieser dem Militarismus verhängnisvoll Vorschub leistete, weil das Kriegsspiel seine eigentliche Domäne war und ihm seine Daseinsberechtigung verlieh.
Luther aber widerstand weitgehend jeder Radikalisierung seiner Bewegung. Das mag ein wesentlicher Grund dafür sein, warum er zuletzt im Bett starb und nicht auf dem Scheiterhaufen oder durch das Schwert. Das Rezept seines Erfolgs waren Verlässlichkeit und Standhaftigkeit, Bemühung um Ausgleich, Authentizität seiner Absichten, Abneigung gegen Gewalt â auch wenn er hier und da aus taktischen Gründen moralisch versagt hat, etwa wenn er gegen plündernde Bauern und »geldgierige« Juden Front machte. Oder wenn er dem für ihn politisch wichtigen Landgrafen von Hessen die Ehe mit zwei Frauen erlaubte, wie bei Abraham in der Bibel. Der Leibarzt des Fürsten ist mit dem Argument überliefert, der potente Graf habe drei Hoden und benötige daher eine entsprechend reichliche Versorgung.
Am starren hierarchischen Herrschaftsprinzip seiner Zeit hat Luther, der Entdecker der »Freiheit eines Christenmenschen«, aber zeitlebens nie gerüttelt. Ein König sei ein König, ein Knecht ein Knecht. Jeder an dem Ort, wo Gott ihn hinstellt. Und auch in Fragen der
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