Unterwegs in der Weltgeschichte
gegeben, auch wenn viele Wartburg-Besucher noch immer nach ihm fahnden: jenem Fleck an der Wand, den das Tintenfass hinterlassen haben soll, das der groÃe Reformator Martin Luther alias Junker Jörg, wie sein Pseudonym während der zehn Wartburg-Wochen lautete, kraftvoll und zielgenau nach dem Teufel warf. Oder nach dem Schattenriss, der Silhouette des Teufels, wie andere Quellen behaupten. Wie auch immer! Da das viel beschworene Indiz â das ominöse Mal an der Wand â fehlt und keine Tatzeugen überliefert sind, dürfte auch der Wurf selbst in das Reich der Fantasie gehören.
Dabei wäre es so schön gewesen, ein bisschen zu spekulieren. Etwa über die Frage, woher der Leibhaftige denn gekommen ist. Ob der Reformator ihn möglicherweise, eben um ihn zu treffen, selber herbeizitiert, ihn quasi â wie heiÃt es so schön â an die Wand gemalt hat. Oder ob vielleicht jene Flammenschrift, jenes Menetekel, das einst dem babylonischen Herrscher Belsazar erschien und es bis in die Bibel schaffte, im Hintergrund der Wartburg-Legende herumgespukt hat. Aber warten Sie es ab, Sie werden die Erklärung des umstrittenen Volltreffers noch kennenlernen. Und sie hat zwei Vorzüge. Sie klingt nicht nur überzeugend, sie ist auch wahr.
Auf unserer Zeitreise sind wir schon ein paarmal in Rom vorbeigekommen. Und bei dieser Gelegenheit haben Sie sicherlich gesehen, wie gigantisch groà und sehr bedeutend der Petersdom ist. Wenn Sie jetzt das kleine Kämmerchen oben links auf der Wartburg betreten, werden Sie bemerken, wie eng und klein es dagegen ist. Aber lassen Sie sich nicht von ÃuÃerlichkeiten blenden: Dieses Kämmerchen im ersten Stock ist viel bedeutender. Geschichtlich gesehen.
Anders gesagt: Diese zwölf Quadratmeter Wartburg sind im 16. Jahrhundert deswegen so berühmt geworden, weil eigentlich die Peterskirche berühmt werden sollte, der Schuss aber nach hinten losging. Für das katholische Mammutprojekt »Peterskirche« wurde nämlich damals so viel Geld ausgegeben, dass der Unmut derer wuchs, die dafür zur Kasse gebeten wurden. Und das waren die einfachen Menschen. Das »Volk«, das sich nun massenhaft von der prunksüchtigen, mehr und mehr entfremdeten Papstkirche abwandte. Im bescheidenen Wartburg-Zimmerchen hingegen wurde ohne jeden Kostenaufwand eine Bibelübersetzung angefertigt, die vielen Menschen die christliche Botschaft in verständlichen Worten nahebrachte und unsere Welt wirklich verändert hat.
Was die Dinge wert sind, lässt sich eben nicht immer auf den ersten Blick sagen.
Luther wäre auch nicht Luther, wenn es die Tinte nicht gäbe. Davon war schon die Rede. Den ominösen Klecks haben bereits in früherer Zeit viele Wartburg-Besucher so schmerzlich vermisst, dass der Realhistorie schlieÃlich ein wenig Nachhilfe zuteil und die Wand sozusagen künstlich »befleckt« wurde. Aber inzwischen verzichten die Museumsleute darauf, den berühmten Fleck an der Wand immer wieder nachzupinseln. Jahrhundertelang haben unzählige Touristen sich Stückchen für Stückchen tintigen Mauerwerks als Erinnerung herausgepult. FleiÃig haben die Burgverwalter immer wieder nachgemalt. Aber irgendwann war damit Schluss.
Die Museumsführer werden nicht müde, Ihnen und den anderen Besuchern immer wieder zu erklären, dass Luther eigentlich niemals mit dem Tintenfass geworfen habe, sondern dass »mit Tinte den Teufel vertreiben« nur symbolisch gemeint war. Mit seinen vielen Flugschriften, die ein halbes Jahrhundert nach Erfindung des Buchdrucks in hoher Auflage reiÃenden Absatz fanden, und mit seiner bahnbrechenden Bibelübersetzung habe er »den Teufel« vertrieben â und das meinte damals, Sie werden es ahnen, keinen anderen als den Papst! Mit Tinte also, gewiss. Aber niemals mit dem Tinten fass !
Das ist wohl richtig, aber nicht romantisch. Wir wünschen uns aber meistens, dass die Geschichten um Luther romantisch sein mögen. Besonders am 31. Oktober, am Reformationstag, wenn wir feierlich in der Kirche sitzen und mit Orgelgebraus »Ein feste Burg ist unser Gott« singen. Für das Reformationspathos hat vor allem das 19. Jahrhundert gesorgt, damals, als wir Deutschen uns als Nation entdeckten. Als unsere UrururgroÃväter stolz die deutsche Geschichte priesen und ihre Märchen und Mythen zu sammeln begannen. Als sie ihre Bauwerke in prachtvolle neugotische
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