Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Verwicklungen der aktuellen Politik so wenig Ahnung hätten wie von Chinas klassischer Kultur. Einmal erwähnte sie, sie habe zu einer Gruppe gehört, die Das Kleine Rote Buch mit den Aussprüchen des Vorsitzenden Mao in monatelanger Arbeit ins Deutsche übersetzte. Meine Frage, ob sie verheiratet sei, bejahte sie, aber meinen Wunsch, ihren Mann einmal kennenzulernen, wies sie ab. Der sei ein Naturwissenschaftler an einer Pekinger Universität und dürfe wegen seiner wichtigen Arbeit keinen privaten Kontakt mit Ausländern haben. Dabei blieb es dann. Wir waren uns durchaus sympathisch, und manchmal gab sie mir am Rande des Unterrichts kleine Hinweise, die es mir leichter machten, die Bedeutung eines Leitartikels oder die Meldung einer chinesischen Zeitung zu verstehen. Ohne dass eine engere Beziehung entstand, kamen wir gut miteinander aus. Aber mehr über sie erfuhr ich erst zwei Jahrzehnte später.
Der Mann von Frau Shu, so stellte sich heraus, war gar kein Naturwissenschaftler, wie sie mir erzählt hatte. Er war vielmehr bis Mitte der sechziger Jahre einer der beliebtesten und berühmtesten Opernsänger Chinas gewesen. Dann jedoch war er in Konflikt mit Maos Frau geraten, als diese das kulturelle Leben Chinas zu revolutionieren versuchte und daranging, die klassischen Opern – chinesische wie europäische – durch ihre eigenen Schöpfungen zu ersetzen. Frau Shus Mann wurde auf Jahre hinaus vom Kulturleben ausgeschlossen, sie wurde inhaftiert und zur Arbeit aufs Land geschickt. Als ich Frau Shu nach zwanzig Jahren wiedertraf, hatte sie gerade einen Roman aus dem Deutschen übersetzt: Deutschstunde von Siegfried Lenz. Der Roman erzählt von den Erfahrungen eines Malers in der Nazizeit, von dem Malverbot, das ihn traf, und von Hitlers Versuch, eine »entartete« Kunst zu zerstören. Die Parallelen zwischen NS -Kulturpolitik und Chinas Kulturrevolution konnten den chinesischen Lesern nicht entgehen.
In allen Gesprächen musste man nach den Zwischentönen suchen und an den fast unbeweglichen Gesichtern ablesen, ob man auf Ablehnung oder ein bisschen Verständnis gestoßen war. So ging es mir auch mit der stellvertretenden Leiterin der Presseabteilung des Außenministeriums, über deren Tisch alle Entscheidungen bezüglich der Arbeits- und Reisemöglichkeiten ausländischer Journalisten gingen. Viele westliche Diplomaten und die meisten meiner Kollegen nannten sie eine böse alte Kommunistin. Manche Anfragen fegte sie unerbittlich vom Tisch, und bisweilen dirigierte sie uns auf Reisen zu Fabriken oder Volkskommunen in strengem Befehlston. Sie musste fünfundfünfzig bis fünfundsechzig Jahre alt sein, und aus der britischen Botschaft stammte das Gerücht, sie habe in ihrer Jugend in Shanghai zu den revolutionären Studenten gehört und schon in den dreißiger Jahren im Bürgerkrieg mit Zhou Enlai zusammengearbeitet. Bei einigen ihrer Bemerkungen schien mir, dass sie und ihre beiden engsten Mitarbeiter tatsächlich eher dem Premierminister Zhou und seiner kontrollierten Modernisierung Chinas zuneigten und nicht unbedingt Maos Frau Jiang Qing und ihren Kulturrevolutionären. Jiang Qing hatte seit 1973 eine Kampagne gegen den klassischen Philosophen Konfuzius geführt, die dann ein Jahr später erweitert wurde durch Angriffe gegen den ehemaligen Armeechef Lin Biao, der nach seinem Streit mit Mao bei einem Flugzeugabsturz 1971 auf ungeklärte Weise ums Leben gekommen war. Mit den Kampagnen ging auch – für Europäer schwer verständlich – eine Verurteilung Beethovens und seiner Musik einher, die als antiproletarisch und antirevolutionär geächtet wurde. Aus vorsichtigen Nebenbemerkungen der beiden Männer aus der Presseabteilung schloss ich, dass sie zumindest die Verurteilung Beethovens bedauerten. Ich lud sie und ihre Chefin einige Male zum Abendessen zu mir ein, teils um ihnen ganz offiziell über die Probleme der Korrespondentenarbeit zu berichten und teils um mein Verständnis der chinesischen Politik zu vergrößern. Wenn die drei vor der Tür standen, lief bereits eine Schallplatte mit »Freude, schöner Götterfunken« aus Beethovens 9. Sinfonie. Ich fragte nicht, ob ihnen die Musik gefalle, sie sprachen wenig und hörten lieber zu. Als ich später bei einer anderen Gelegenheit erneut ein Gespräch mit Beethoven untermalte, waren sie wieder ganz still. Wir hatten etwas Gemeinsames gefunden, und von da an spürte ich bei ihnen stets so etwas wie unausgesprochenes Wohlwollen, wenn ich Informationen oder
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