Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
kühle Formalität erwartete ich also nicht, als mich ein Vertreter der Auslandsabteilung in den fünften Stock und ins Arbeitszimmer Lapins führte. Dass ich als Ausländer überhaupt die Sicherheitsschleusen passieren durfte, war neu, unverändert aber war die Gleichgültigkeit, mit der Lapin mich empfing. Er saß an einem langen Tisch, im Rücken die Fenster, so dass mir das Licht wie bei einem Verhör ins Gesicht fiel. Er blickte ständig an mir vorbei, und es dauerte eine Weile, bis ich mir das erklären konnte: Auf einem der vielen Bildschirme hinter mir lief ein Eishockeyspiel. Ein russischer Kollege hatte mir zwei Themen genannt, über die man mit Lapin reden könne: Eishockey und Goethes Faust . Zu Recht oder zu Unrecht hatte Lapin den Ruf, ein großer Kenner des Faust II zu sein. Ehe ich aber meine schwachen Erinnerungen an dieses Theaterstück ins Spiel bringen konnte, hatte er mit seiner vorbereiteten Belehrung begonnen. Wie meine Arbeitsmöglichkeiten in Moskau aussehen würden, hänge auch davon ab, dass Rundfunk und Fernsehen in Deutschland endlich mit ihrer antisowjetischen Propagandakampagne Schluss machten, sagte er. Es sei längst an der Zeit, dass die deutsche Regierung diesem Treiben ein Ende bereite, wenn sie den Wunsch habe, zum mächtigsten sozialistischen Staat der Welt fruchtbare Beziehungen zu unterhalten. Ich versuchte sein Bild von durch die Regierung gleichgeschalteten westdeutschen Medien vorsichtig zu korrigieren, aber Lapin, der Widerspruch seit Jahren nicht mehr gewohnt war, reagierte mit wachsendem Ärger. »Wie Sie wissen, bin ich ein Mitglied der Regierung und des Zentralkomitees der Partei. Alle wichtigen Mitarbeiter von Rundfunk und Fernsehen gehören der kommunistischen Partei an. Alle arbeiten zusammen, um im Auftrag der Partei das Beste für unser Land zu erreichen. Natürlich gibt es auch bei uns Verrückte, die sich nicht auf die gemeinsame Arbeit für Partei und Staat einstellen können. Manche von ihnen sind dumm, die werden entlassen, andere sind bösartig, die werden bestraft, oder wir verbannen sie ins Ausland. Einige sind richtig verrückt, die kommen in die psychiatrische Klinik.« Dann wandte er sich wieder ganz dem Eishockey zu. Der Höflichkeitsbesuch war beendet.
Zum Glück stieß ich nicht überall auf ein derart kaltes und abweisendes Klima. Im Grunde war es sogar eine gute Zeit für einen Journalisten. Unter dem alten Breschnew war angebrochen, was spöttische russische Kollegen »das goldene Zeitalter der Stagnation« nannten. Die Re-Stalinisierung, vor der oft gewarnt wurde, war ebenso wenig gekommen wie eine Modernisierung des Landes. Moskau war immer noch ein wichtiger Platz in der Weltpolitik, aber politische Sensationen gingen von ihm nicht aus. So konnte ich mit Kollegen oder Mitarbeitern der großen Institute der Akademie der Wissenschaften häufiger und freier sprechen als in den früheren Sowjetjahren. Meine Bekannten waren an einer Diskussion über Nachrichten aus dem Westen hochinteressiert, denn die offizielle Parteilinie wurde nicht mehr mit derselben Härte durchgedrückt. Das bot ihnen eine Chance zum Meinungsaustausch und zu einem freieren Umgang mit Ausländern.
Ich besuchte einige Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, um mit Kollegen ins Gespräch zu kommen, und fand dabei auch jene freundlich und aufgeschlossen, die sich dicht an der offiziellen Linie hielten. Ganz überrascht war ich, als mich ein Leitartikler der Regierungszeitung Iswestija auf einem Empfang ansprach. Ich hatte die Artikel von Alexander Bovin stets mit Interesse gelesen. Sie waren in Nuancen fühlbar anders als die sonstigen offiziellen Stellungnahmen, auch kenntnisreicher in Fragen der Außenpolitik und der Einschätzung westlicher Positionen. Nun war ich erstaunt, als er mich um einen Gefallen bat: Er habe von meiner Biografie des Dichters Boris Pasternak gehört. Ob ich ihm das Buch ein paar Tage leihen könne. Bovin war ein außenpolitischer Berater des Zentralkomitees und gelegentlicher Redenschreiber des Präsidenten Breschnew, da hätte er eigentlich Zugang zu einem offiziell nicht zugelassenen Buch wie meiner Pasternak-Biografie haben müssen. Auch überraschte mich die Offenheit, mit der er sein Interesse an einem verbotenen Schriftsteller erkennen ließ. Ich schickte ihm eine englische Ausgabe des Buches, die er mir eine Woche später zurückgab. Ihm habe gefallen, dass ich darin mit viel Achtung und Verständnis über die russischen Dichter und ihr
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