Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Bekleidungsgeschäft in der Straße des Östlichen Lichts und verkündete, die Partei habe die Herausgabe der Werke Mao Tsetungs an den Ministerpräsidenten Hua übertragen. Am Abend war die Wandzeitung wieder abgerissen. Also suchte ich mit einem australischen Kollegen in dunklen Seitenstraßen und auf Hinterhöfen mit der Taschenlampe nach weiteren Plakaten, und tatsächlich fanden wir nun überall den gleichen Text, der Hua Guofeng als Erben Maos zu benennen schien. Damit war klar, dass Jiang Qing und die Radikalen den Kampf endgültig verloren hatten. Tatsächlich wurden sie und ihre drei engsten Verbündeten nun als die »Viererbande« geächtet und saßen bereits einen Monat nach Maos Tod im Gefängnis.
Mein Korrespondentenvertrag war abgelaufen und die Abreise aus China stand unmittelbar bevor. Angesichts der sich abzeichnenden politischen Veränderungen fragte ich bei der Presseabteilung im Außenministerium vorsichtig nach, ob es nicht klüger sei, in Peking zu bleiben und genauer über die Ereignisse der letzten Wochen zu berichten. »Nein«, sagte man mir, »jetzt ist alles geregelt, und um zu verstehen, was geschehen ist, würden Sie viele Monate brauchen.«
Neues Denken auf Russisch
Moskau 1977–1991
Nachdem ich Peking verlassen hatte, ging ich für ein Jahr an das Center for East Asian Research der Harvard-Universität, um an einem Buch über China zu arbeiten und einige Seminare zu geben. Es war ein großer Sprung von Peking nach Amerika und eine erstaunliche Erfahrung. Hier an der Universität standen mir unendlich viel mehr Unterlagen zur Verfügung, als ich in China selbst je hätte bekommen können: Statistiken, Texte der innerparteilichen Auseinandersetzungen, Leitartikel lokaler Zeitungen, Politikerbiografien, Veröffentlichungen über wirtschaftliche Entwicklungen – es gab Unmengen detailliertesten Materials und erfahrene Professoren und junge Forscher, die es auswerteten. Mehr an Information über das China der Gegenwart war vermutlich nirgends auf der Welt auf so engem Raum zu finden. Es war fast alles da – außer Wissenschaftler, die in den letzten Jahrzehnten in dem Land gewesen waren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Beziehungen zwischen der Volksrepublik und den USA noch immer so rigide beschränkt, dass an der großen Harvard-Universität nur ein Professor lehrte, der ein Jahr im China Maos gelebt hatte, und das war ein Kanadier. Ich sammelte Material und Unterlagen und verglich die Informationen mit meinen eigenen Erfahrungen. Bei manchen Themen fand ich Erklärungen, auf die ich in China nie gestoßen wäre. Doch ich las auch Arbeiten, die auf komplizierte, theoretische Weise Zusammenhänge herstellten, die ich aus meinen praktischen Erfahrungen in chinesischen Betrieben, Bauerndörfern oder Universitäten vergleichsweise leicht hätte herleiten können.
Es war ein angenehmes und lehrreiches Jahr in Harvard, aber keine Tätigkeit, die ich für den Rest meines Lebens weiter betreiben wollte. Ich war eben doch mehr Journalist als Akademiker und war nach wie vor besonders fasziniert von Russland, von der großen Sowjetunion. »Geh doch für uns als Hörfunkkorrespondent nach Moskau. Der alte Breschnew stirbt bald. Und dann wird es dort spannend«, sagten meine Kollegen vom Westdeutschen Rundfunk. Ich glaubte das auch oder hoffte es wenigstens, als ich Ende 1977 wieder in ein Flugzeug nach Moskau stieg.
Die Sowjetunion schien zu dieser Zeit in eine Art Halbschlaf gefallen zu sein, ein Zustand, mit dem der alte Generalsekretär Breschnew und die Mehrheit der Parteiführung offenbar ganz zufrieden waren. Dramatische Spannungen, wie ich sie in China erlebt hatte, waren zu Lebzeiten dieser alten Funktionäre nicht zu erwarten. Während es in Peking Mitte der siebziger Jahre harte Zusammenstöße und Auseinandersetzungen gegeben hatte, lebten die Russen in einer Phase der Stagnation, die allerdings, so fanden viele, auch ihr Gutes hatte. Die sowjetische Propaganda hatte die brutale Politik der chinesischen Kommunisten dramatisiert und der Bevölkerung damit so viel Angst eingeflößt, dass viele mit den mäßigen Verbesserungen im eigenen Land zufrieden schienen oder sich jedenfalls dem gewaltigen Apparat des Polizeistaats ohne Widerstand unterordneten.
Als ich mich im Frühjahr 1978 dem Chef des sowjetischen Fernsehens und Hörfunks Sergej Lapin als Korrespondent der ARD vorstellte, erinnerte ich mich an die Begegnung mit ihm während des Regierungsbesuchs von Willy Brandt. Mehr als
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