Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
gewesen, die mit den Waffen der Kulturrevolution den innerparteilichen Konflikt für sich entscheiden wollten. Indem die Demonstranten den toten Ministerpräsidenten Zhou Enlai als Mann von Ordnung und Fortschritt ehrten, gaben sie sich als Gegner weiterer revolutionärer Unruhe zu erkennen. Aber sie hatten sich nicht durchsetzen können. Nach dem Ende des Protestes war offenkundig, dass der ehemalige Vizepremier Deng Xiaoping, der eigentlich als der Nachfolger Zhou Enlais gegolten hatte, den Machtkampf in der Parteispitze verloren hatte. Tatsächlich musste er nach den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz alle seine Ämter abgeben. Stattdessen führte der bis dahin wenig bekannte Hua Guofeng die Regierung. Die radikalen Anhänger von Maos Frau hatten mit Hilfe der Armee gewonnen und agitierten von nun an gegen den Vorrang der wirtschaftlichen Modernisierung und für die revolutionäre Umgestaltung. Peking lag wieder da, als sei nichts geschehen.
Doch dann erschütterten am 28. Juli 1976 Erdstöße die Häuser in der Pekinger Innenstadt. An der Fassade der Großen Halle des Volkes zogen sich auf beiden Seiten des riesigen Mao-Porträts zwei breite Risse vom Boden bis zum Dach. Während die Pekinger rätselten, ob dies ein Zeichen sei und was es bedeuten könnte, bestätigten neue Gerüchte über das Erdbeben die schlimmsten Befürchtungen. Bald sprach sich herum, dass 160 Kilometer von Peking entfernt eines der größten Erdbeben des modernen China die Industriestadt Tangshan regelrecht vernichtet hatte. 700 000 Menschen seien getötet worden, hieß es. Gleichzeitig ließen die widersprüchlichen Reaktionen der Parteiführung auf die Katastrophe erkennen, dass der Konflikt zwischen den beiden verfeindeten Lagern erneut auf einen Höhepunkt zusteuerte. Zunächst hatten die Anhänger Jiang Qings ein Komitee gegründet, dessen Zweck »die Bekämpfung des Erdbebens und die Dezentralisation der Bevölkerung« sein sollte. Die Wortwahl beunruhigte die Pekinger. Viele von ihnen hatten in der kaum zerstörten Stadt ihre Wohnungen verlassen und in Tausende von Zelten ziehen müssen. Nun fürchteten sie, die Radikalen könnten dem Beispiel der von Jiang Qing oft gelobten Regierung von Kambodscha folgen, welche die Bevölkerung der Hauptstadt auf Provinzstädte und Landgebiete verteilt hatte. Dann änderten sich plötzlich die Signale. Armeelastwagen mit Baumaterial rollten nach Peking, und Soldaten reparierten beschädigte Häuser. Im Fernsehen und in den Zeitungen tauchten Maos Frau und die Vertreter der Radikalen nicht mehr auf, und man sah nun stattdessen den neuen Ministerpräsidenten, der den Überlebenden von Tangshan den Wiederaufbau ihrer Stadt versprach. Hua Guofeng hatte sich offenbar von den Radikalen abgesetzt, und die Chinesen verstanden, dass er Maos Nachfolger und damit der neue Führer des Landes werden könnte.
Am 9. September 1976 , um 15 Uhr, kündigten die chinesischen Rundfunk- und Fernsehanstalten eine wichtige Verlautbarung an, die eine Stunde später folgen werde. Eine ähnliche Mitteilung hatte es acht Monate zuvor gegeben, als der Tod des Ministerpräsidenten Zhou gemeldet worden war. So bildeten sich auf den Straßen von Peking stille Gruppen von Menschen an den öffentlichen Lautsprechern und um junge Männer herum, die ein Transistorradio hatten. Auf dem Tiananmen-Platz hatten die Besucher vom Lande noch vor den Fotografen Schlange gestanden, nun stellten sie sich im großen Halbkreis gegenüber dem Fahnenmast auf. Punkt 16 Uhr setzten Soldaten die chinesische Flagge auf halbmast. Die Soldaten standen mit gebeugtem Kopf da, einige von ihnen weinten. Alte Männer verneigten sich unter dem großen Porträt des Vorsitzenden Mao nach traditioneller chinesischer Art, junge Mädchen hockten schluchzend neben ihren Fahrrädern. Die Wachsoldaten holten schwarze Armbinden aus ihren Taschen, als die Nachricht vom Tod Maos über die Lautsprecher kam. Innerhalb von Stunden verwandelte sich Peking in eine Stadt mit Trauerarmbinden und mit Papierblumen in Weiß, der traditionellen chinesischen Trauerfarbe. Andererseits gab es bald nur noch wenig sichtbare Schmerzausbrüche und nur wenige Menschen, die auf der Straße weinten. Die Stimmung in der Stadt war düster und irgendwie unheimlich – es schien, als versuche die Führung bewusst, den Ausdruck allzu starker Emotionen zu verhindern.
Der offizielle Nachruf in den Zeitungen las sich trocken wie ein parteipolitisches Schulungsdokument. Zwar wurde Mao der
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