Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
größte Marxist der Gegenwart genannt, dennoch vermittelte nichts das Gefühl eines so starken Verlustes, wie es seiner historischen Bedeutung eigentlich gebührt hätte. Mao war ein Meister des Wortes gewesen und hatte politische Ziele sogar in den Metaphern der klassischen Dichtung ausdrücken können. Die dürren und kühl berechneten Nachrufe dagegen ließen erkennen, dass die verfeindeten Führer seinen Tod in erster Linie als Waffe in ihrem Machtkampf nutzten. So gab es im Fernsehen zunächst nur Bilder ohne Ton, die eine rituelle, disziplinierte und unemotionale Trauer zeigten. Erst einige Tage später konnte man bei Wiederholungen im Fernsehen auch das Schluchzen von Trauernden hören und sah Bilder von weinenden Menschen, die den Glaskasten zu berühren versuchten, in dem der Tote lag. Für mich war der Pressetermin, bei dem wir Journalisten an dem Sarg vorbeigeführt wurden, das erste Mal, dass ich Mao aus der Nähe sah. Unter meinen Kollegen kam es dabei zu einem Streit: Ein sowjetischer Journalist bemerkte, Mao sehe schon jetzt nicht mehr so gut aus, und ein Jugoslawe entgegnete, in Moskau hätten sie ja auch schon den dritten Lenin im Mausoleum. Wenn Chinesen in geordneten Reihen durch die Trauerhallen ihrer Fabriken gingen, wo Maos Porträt inmitten von Kränzen stand, wurde geweint und geschluchzt, aber wenn sich die Menge danach auf der Straße auflöste, schwatzten die Menschen wieder miteinander, als sei dieser eine Gefühlsausbruch erst mal genug. Am Tag der offiziellen Trauerfeier marschierte eine halbe Million Menschen auf den Platz des Himmlischen Friedens. Alle Gruppierungen warteten stundenlang auf den Stellen, die für sie auf dem Pflaster markiert worden waren. Die Fernsehübertragung begann um 15 Uhr mit der Verlesung des Nachrufs. Um 15.31 Uhr zeigte das Fernsehen als Schlussbilder der Trauerfeier, wie die Partei- und Staatsführung die Tribüne verließ. Neunhundert Millionen Chinesen hatten die Köpfe gebeugt und sich an den toten Vorsitzenden erinnert. Aber nur eine Stunde später waren sie schon wieder an ihren Arbeitsplätzen oder drängten zum Einkaufen in die Läden, in denen es keineswegs stiller zuging als sonst.
Ich schrieb einen langen Artikel über Maos Bedeutung für China, über die Trauerkundgebungen der Millionen, das seltsam verhaltene Auftreten der Führungsgruppe und die Nachrufe, die, so fand ich, in ihrer formellen Nüchternheit der Person Maos und seiner geschichtlichen Rolle nicht gerecht wurden. Es sei zu erkennen, dass die Erben sich nicht darüber einigen könnten, was Mao ihnen hinterlassen habe: den Aufruf zu einer neuen Kulturrevolution oder die Aufforderung zum Aufbau eines moderneren China. Mein Artikel, in dem ich auch Spekulationen über die Zukunft nach Maos Tod streifte, war ungefähr eine Zeitungsseite lang. Ich übergab ihn den Beamtinnen im Zentralen Telegrafenamt zur Übermittlung an die Welt -Redaktion in Deutschland. Normalerweise kamen Fernschreiben auf diesem Weg nach zwei Stunden unzensiert und unverändert in Hamburg an. Dieser Artikel hingegen hatte die Redaktion auch am nächsten und übernächsten Tag noch nicht erreicht. Ich sprach bei der Presseabteilung des Außenministeriums vor, um wegen der Verzögerung nachzufragen. Die stellvertretende Leiterin, die mir sonst stets so etwas wie Sympathie entgegengebracht hatte, war ziemlich kurz angebunden. Wenn man einen so langen Text versende, dann müsse man schon damit rechnen, dass die Übermittlung lange dauern werde. Ich dankte für diese Auskunft, verabschiedete mich und ging zur Tür. Sie folgte mir und sagte noch: »Dieser lange Artikel war nicht korrekt.« Und dann etwas leiser: »Aber intelligent. Auf Wiedersehen.« Es war, wie ich später fand, das größte Kompliment, das ich je in Peking bekommen hatte.
Der Artikel traf schließlich doch nach drei Tagen in Hamburg ein. Da war die Stimmung in Peking freilich schon umgeschlagen. Ein chinesischer Kollege, der uns Ausländer sonst links liegenließ, sagte lächelnd zu mir: »Ich bin so glücklich. Jetzt weiß ich, dass in China alles gut sein wird.« Ich hatte zuvor öfter schon das Gefühl gehabt, dass ihm die radikale Politik von Jiang Qing nicht gefiel, und versuchte zu raten: »Ist Madame etwas zugestoßen?« Der chinesische Kollege lachte. »Bald werden Sie wissen, warum ich glücklich bin. Ich weiß jetzt, dass China ein großes modernes Land werden wird.« Zwei Tage darauf klebte eine große Wandzeitung an einem
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