Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Schicksal geschrieben hätte. Das war ein anderer Ton, als ich ihn aus früheren Gesprächen kannte.
Ich merkte, dass das Buch als eine Art Eintrittskarte zu Gesprächen verschiedenster Art diente. Ohnehin spielten russische Kollegen häufig darauf an. Viele von ihnen und besonders ihre Frauen liebten und verehrten den Dichter, an dessen Grab auf dem Friedhof von Peredelkino immer noch regelmäßig frische Blumen lagen. Und selbst bei den Mitarbeitern der wirtschaftlichen und politischen Forschungsinstitute erging es mir so, von denen mich einige gelegentlich zu Gesprächen einluden. Sie kritisierten die offizielle Politik nicht direkt, aber ich entnahm ihren Fragen, dass sie den Mangel an Konzepten zur Reform von Wirtschaft und Gesellschaft für bedauerlich, ja gefährlich hielten. Dabei ließen sie durchblicken, dass sie vor allem im Unverständnis der Parteiführung den Grund für den schlechten Zustand der Wirtschaft sahen. Ich erfuhr von ausführlichen Studien, die von Instituten der Akademie der Wissenschaften an die Parteiführung übermittelt, dort aber nicht weiter erörtert wurden. Ein russischer Volkswirtschaftler erzählte mir – verbittert und leicht betrunken –, wie eine seiner wichtigsten Arbeiten durch die Leitung seines Instituts zusammengestrichen worden sei. Er hatte in einer zweihundertseitigen Studie die Probleme der sowjetischen und internationalen Öl- und Erdgasproduktion untersucht und nicht zuletzt die Schwierigkeiten bei den sowjetischen Exporten analysiert, die immerhin zu 80 Prozent aus Öl, Gas und Rohstoffen bestanden. Es war ein sorgfältiger Beitrag zur Auseinandersetzung über Vor- und Nachteile engerer Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland und auch über die angeblich daraus entstehenden Abhängigkeiten. Fast ein Jahr hatte er an der Studie gearbeitet, bevor er sie zwei Wochen vor unserem Gespräch beim kommissarischen Leiter seines Instituts ablieferte. Am Nachmittag vor unserer Begegnung hatte er sie zurückbekommen: Veröffentlichung genehmigt, aber um achtzig Seiten gekürzt. Nun sei eigentlich nur ein statistisches Gerippe übrig geblieben. »Wer das liest, muss mich für einen stumpfsinnigen Trottel halten«, klagte er. Aber der Leiter seines berühmten Forschungsinstituts habe bloß gesagt, es sei doch nutzlos, derartige Überlegungen zur Debatte zu stellen. Das Institut werde Schwierigkeiten bekommen, weil eine solch kritische Darstellung die zuständigen Parteifunktionäre verärgern würde. »Wenn überhaupt, dann liest das höchstens dieser Gorbatschow.« Es war das erste Mal, dass ich den Namen des jüngsten Mitglieds des Politbüros Michail Gorbatschow hörte. Der Wirtschaftswissenschaftler erzählte mir auch von dem Direktor des Instituts für Weltwirtschaft, der nach einer kritischen Studie aus seinem Haus vom Zentralkomitee getadelt und dann an die Botschaft in Kanada versetzt worden sei. So würden die Arbeiten der Wissenschaftler kastriert, sagte er und entschuldigte sich dafür, dass er einfach mal Dampf ablassen musste. Er war überhaupt kein Mann der Opposition und kein Feind der Partei und ihrer Führer. Aber ihm ging die Heuchelei, mit der eine Diskussion der vorhandenen Schwierigkeiten unterdrückt wurde, zu weit. Einige Jahre später sollte er zu einem offenen Kritiker des Systems werden.
Eine kleine Zahl von Intellektuellen hatte den Schritt zur offenen Regimekritik schon mehrere Jahre früher getan. In Moskau demonstrierten am Tag der sowjetischen Verfassung 1965 ungefähr hundert Menschen auf dem Puschkinplatz und protestierten insbesondere gegen die Zensur. Unter der Bezeichnung »Hauptverwaltung für Literatur«, so der Vorwurf, belaste die Zensurbehörde mit ihren Willkürakten die Arbeit der Künstler und Schriftsteller. Zensur sei in der Verfassung nicht vorgesehen, werde nirgends öffentlich mit Namen genannt und sei durch kein Gesetz gedeckt. Partei und Polizei griffen in den darauffolgenden Jahren scharf durch, und kritische Intellektuelle wurden in psychiatrische Krankenhäuser eingeliefert oder in Straflager verbannt. Seit Ende der sechziger Jahre führten Kritiker des Regimes eine »Chronik der laufenden Ereignisse«, die über die Verhaftungen von Dissidenten, die Verfolgung von Christen, Juden und Moslems sowie über die Unterdrückung nationaler Minderheiten ebenso berichtete wie von Protesten der Intellektuellen und dem Elend der kleinen Leute. Die Chronik wäre unbekannt geblieben, wenn sich im Westen nicht Amnesty International für
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