Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
wieder kam es in dieser Zeit, Anfang der achtziger Jahre, zu Begegnungen, die ich in den Jahren zuvor, in denen fast nur offizielle Kontakte möglich gewesen waren, für undenkbar und frei erfunden gehalten hätte. Da hatte es etwa ein Mann aus der städtischen Restaurantverwaltung, den ich gelegentlich in einem seiner Lokale getroffen hatte, durch Beziehungen geschafft, eine Wunderheilerin aus Georgien in die Hauptstadt zu holen. Sie sollte seiner krebskranken Mutter die letzten Lebensjahre erleichtern. Djuna Dawitaschwili war eine Mittdreißigerin, sehr attraktiv und ein bisschen hochmütig, mit schwarzen Haaren und dunklem Teint, aus dem kleinen Volksstamm der Assyrer, die verstreut am Rande des Kaukasus und im Nahen Osten lebten. Manche ihrer Freunde nannten sie eine babylonische Hexe. In Moskau ging das Gerücht um, sie sei in die Hauptstadt gekommen, um den Staats- und Parteichef Leonid Breschnew zu behandeln. Als sich das unter den ausländischen Journalisten herumsprach, meldete sich eines Tages der Herausgeber eines bekannten deutschen Nachrichtenmagazins bei seinem Korrespondenten in Moskau: Er wolle in die sowjetische Hauptstadt reisen, um sich von der Wunderheilerin behandeln zu lassen. Ich wusste, wie misstrauisch die sowjetischen Behörden reagieren würden, wenn eine Wunderheilerin, der man eine Nähe zu Breschnew nachsagte, einen bekannten ausländischen Journalisten empfing, und gab ihr einige Ratschläge, welche Stellen der sowjetischen Informationsorgane sie vorher auf halboffiziellem Weg kontaktieren müsste.
Von da an sprach sich bei einigen Mitarbeitern des Außenministeriums und des KGB herum, dass ich mit dieser Djuna bekannt sei. Und da Wunderheilungen mindestens so begehrt waren wie ausländische Medikamente, bemühten sich auch jene um eine Einladung bei mir, die üblicherweise den Kontakt zu Ausländern mieden. Sie alle hatten entweder selbst Krankheiten oder aber kranke Verwandte, die Djuna behandeln sollte, und hofften, sie bei mir zu treffen. Ich wusste inzwischen, dass sie Breschnew selbst nicht behandelte, aber das Gerücht, dass Mitglieder der höchsten Führungsspitze zu ihr gingen, war nicht ganz falsch: Als ich sie zum ersten Mal in ihrem Moskauer Sechs-Zimmer-Apartment besuchte, trank ich im Wartezimmer meinen türkischen Kaffee mit einem Patienten aus dem Transkaukasus – Eduard Schewardnadse war der Erste Parteisekretär von Georgien und später Gorbatschows Außenminister. Auch den Minister für Wirtschaftsentwicklung und Fünfjahresplan lernte ich dort kennen, andere Patienten waren ebenfalls hohe Funktionäre. Es war eine der seltenen Chancen, sie aus der Nähe zu sehen und zu studieren.
Nach dem Ende der Sowjetunion konnte Djuna Dawitaschwili ihre berühmte Wunderpraxis frei und öffentlich führen, doch auch schon in den Jahren zuvor, in der Zeit des wissenschaftlichen Sozialismus, war der Glaube an Wunderheilungen und geheime Kräfte weit verbreitet. Einmal erzählte ich dem Parteisekretär einer Moskauer Fabrik von meinen vielen russischen Bekannten, die darüber klagten, dass sie nur mit kleinen oder größeren Bestechungen im Krankenhaus eine gute medizinische Behandlung erhalten könnten. Das war für ihn allerdings nicht so bedenklich, da es doch wirksamere Behandlungsmethoden gebe. Er versuchte mir mit Hilfe eines Pendels zu beweisen, dass er aus jedem Foto die Krankheiten der abgebildeten Person herauslesen könne. Ich fragte erstaunt, ob die Führung der kommunistischen Partei ihm, einem Parteisekretär, solche Heilmethoden in seiner Fabrik gestatte. »Auch dies ist eindeutig Wissenschaft, wenngleich noch nicht gänzlich erforscht«, antwortete er. »Ich habe allerdings manchmal Schwierigkeiten, weil die Genossen nicht glauben wollen, dass ich mit Toten reden kann.«
Mit großen politischen Ereignissen und bewegenden oder sensationellen Nachrichten war in diesen Jahren in Moskau nicht zu rechnen. Sogar sowjetische Kollegen versuchten mich ab und zu damit zu trösten, dass der Tod des über siebzigjährigen Breschnew schließlich bevorstehe und dann eine bewegte, unruhige Zeit folgen würde. Aber Breschnew starb nicht und blieb im Amt, wenn auch manchmal mit stockenden Reden, weil er sich im Manuskript verirrte. Also holte mich der Westdeutsche Rundfunk 1981 zurück nach Köln – zuerst als Sonderkorrespondenten der ARD , dann als Leiter der politischen Magazine Monitor und Weltspiegel , schließlich als Chefredakteur des Fernsehens beim WDR .
Die Sowjetunion
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