Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Übersetzungen der Nationalepen turksprachiger Völker, die der Verband jetzt neu übersetzen ließ. Lipkin hatte auch einen Roman über die Schlacht um Stalingrad geschrieben, an der er als Soldat teilgenommen hatte, aber der sollte nun nicht mehr veröffentlicht werden. Unter Kollegen war Semjon Lipkin ein berühmter und verehrter Mann, dessen ungedruckte Gedichte sie unter der Hand weitergaben. Seine Frau Inna Lisnjanskaja war Lyrikerin, und auch ihre Manuskripte kursierten zumeist in handgeschriebenen Kopien. Als die beiden ihren Austritt erklärten, warnte sie einer der Funktionäre, in Zukunft würden sie ein schlechtes Leben führen. Inna Lisnjanskaja antwortete: »Ich lebe gerne gut, aber ich kann auch ganz gut schlecht leben.« Tatsächlich stellte die Krankenkasse, in die der siebzigjährige Schriftsteller fünfzig Jahre lang einen Teil seiner Tantiemen eingezahlt hatte, alle Zahlungen ein. Die Klinik des Schriftstellerverbandes durfte der schwerkranke alte Mann nicht mehr betreten. Ihm und seiner Frau blieben vierzig Rubel im Monat, seine kleine Invalidenrente aus dem Krieg, aus dem er mit der Tapferkeitsmedaille zurückgekehrt war. Bis zum Ende der Sowjetunion lebten die beiden von Arbeiten, die sie unter falschem Namen veröffentlichten, und unterstützt von einigen Kollegen, die im Schriftstellerverband reich geworden waren. Einer von ihnen, der Jahrzehnte vorher die Stalin-Hymne geschrieben hatte und ihren Text später einmal für Wladimir Putin in die neue russische Nationalhymne umarbeiten sollte, half immer wieder großzügig aus. Es war eine seltsame Zeit, in der viele, die vom System profitierten, gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatten.
Mit einigem Glück konnte ich immer wieder kleine Einblicke in eine uns Ausländern verschlossene sowjetische Welt bekommen. Einmal rief die amerikanische Sängerin Joan Baez, die ich in den sechziger Jahren in den USA kennengelernt hatte, bei mir an. Sie war auf Konzerttournee in die Sowjetunion gekommen. Die Karten waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft, doch dann waren ihre Konzerte ohne Begründung kurz vor dem ersten Auftritt in Leningrad abgesagt worden. Sie hatte eine Menge Fans unter meinen Moskauer Bekannten, die sich nicht erklären konnten, warum Joan Baez plötzlich nicht mehr auftreten durfte. Sie sei ja nun alles andere als eine Propagandistin von Kapitalismus und Imperialismus, meinten sie. Einer von ihnen entschloss sich, ihr wenigstens den einen Abend in Moskau unvergesslich zu machen. Das war der Sänger und Dichter Bulat Okudschawa, den Zehntausende schon seit den Jahren der Entstalinisierung liebten. Die Zensurbehörden betrachteten ihn kritisch und verhinderten über Monate seine Auftritte, aber die Organisatoren von Konzerten und Filmen holten ihn immer wieder ins Rampenlicht zurück. Ich erzählte ihm, dass Joan Baez in der Stadt sei, woraufhin er uns sofort zu sich einlud.
Als wir am späten Nachmittag in seiner Wohnung eintrafen, hatte er schon ein paar Freunde angerufen, und die wiederum hatten ihre Bekannten informiert. Bulats komfortable, aber kleine Wohnung war schnell überfüllt. Da meldeten sich unerwartet zwei georgische Künstler, die gerade in Moskau eingetroffen waren. Der eine hatte kurz zuvor für ein monumentales Mosaik den Staatspreis erhalten und wollte nun das Preisgeld in eine Party für Joan Baez stecken. Er telefonierte mit Leitern der Moskauer Restaurantverwaltung und schaffte es, innerhalb von einer halben Stunde einen Saal in einem Restaurant am Rande von Moskau zu mieten. Ich hatte dieses Restaurant gelegentlich beim Vorbeifahren gesehen, einen weißen Bau, der ein wenig wie eine Autobahnraststätte aussah. Es war ein Treffpunkt junger Leute aus den besten Datschenvierteln, vierzig Kilometer von Moskau entfernt, wo die führenden Leute des Partei-, Staats- und Kulturapparats ihre Sommerhäuser besaßen. In diesem Restaurant, in dem man ohne Anmeldung keinen Platz bekam und ohne Beziehungen keine Anmeldung, hatten die beiden georgischen Künstler einen Saal für hundertfünfzig Gäste bereitstellen lassen. Wodka, Sekt, Cognac, Kaviar, kalter Fisch, Aufschnitt, Radieschen, eingelegter Knoblauch und Bündel von Kräutern standen auf den Tischen. All das hatte der georgische Bildhauer in kaukasischer Großzügigkeit mit seinem Staatspreis bezahlt. Bulat Okudschawa begann mit leiser, brüchiger Stimme seine Lieder zu singen. Joan Baez trug ihre amerikanischen Folksongs vor, die die meisten der Gäste gut genug
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