Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Sowjetunion nie gesendet wurde. Ich war dennoch an einen kurzen Ausschnitt aus dem Material herangekommen, nicht länger als eine Minute. In ihm erzählte sie mit schwerem ukrainischem Akzent von den Kriegsjahren: »Da schrieb mir mein Mann von der Front: ›Du musst um jeden Preis etwas besorgen, damit Mischa zur Schule gehen kann.‹ Das Leben war hart geworden. Er hatte nichts anzuziehen und musste ein Vierteljahr zu Hause bleiben. Da habe ich die Schafe genommen und bin mit ihnen nach Salsk gefahren und habe sie verkauft. Mit dem Geld – anderthalbtausend Rubel waren das damals – habe ich Militärstiefel gekauft. Dann ging ich zum Direktor der Schule, Gitalo hieß er, und der Direktor sagte: ›Maria Pantelejewna, ein Vierteljahr ist schon vorbei‹, aber ich habe gesagt: ›Mischa sagt, er wird alles nachholen.‹« Das war alles, was wir bekamen. Vielleicht fanden die zuständigen Funktionäre die alte Frau mit ihrem bäuerlichen Dialekt zu einfach für eine Mutter des Parteichefs.
Schließlich trafen wir noch einige seiner Lehrerinnen. Sie schilderten einen jungen Mann, der gleichzeitig Landarbeit und Schule bewältigen musste, der ein gutes Gedächtnis hatte, gut reden konnte und den sie auch ein wenig bewunderten. Er sei nichts Besonderes gewesen, ein Junge wie alle anderen, sagten die Leute im Dorf immer wieder. Aber immerhin war er der Einzige, der es auf die Mittelschule des Nachbarorts und später nach Moskau auf die Universität schaffte. Dort war er erneut ein Außenseiter und musste nach Abschluss des Studiums sein Fortkommen zunächst wieder in seiner Heimatregion suchen.
In Moskau war es leichter für uns, mit einigen von Gorbatschows Freunden aus der Studentenzeit ins Gespräch zu kommen: Professoren, einem Chefredakteur, einem Staatsanwalt. Insgesamt hatten wir kaum drei Wochen Zeit, um den Bericht zusammenzustellen. Als das Porträt dann zu Beginn des Staatsbesuchs im Juni 1989 von der ARD ausgestrahlt wurde, konnten auch die russischen Kollegen, die mit Gorbatschow nach Bonn gereist waren, zum ersten Mal etwas von seiner privaten Lebensgeschichte sehen. Einiges gaben sie in Berichten über unseren Film weiter. Das sowjetische Fernsehen allerdings fand, es sei noch zu früh, einen Dokumentarfilm über den Generalsekretär im eigenen Land zu zeigen. Immerhin nahm einer seiner Begleiter eine Videokassette mit, und Gorbatschow schaute sie sich spätabends am zweiten Tag des Bonn-Besuchs an. Sie hat ihm wohl nicht missfallen. Mehrere seiner Sicherheitsleute wollten sich am nächsten Tag mit mir unbedingt händeschüttelnd fotografieren lassen. Aber das blieb die einzige Reaktion aus seinem engeren Umfeld.
Die sowjetische Delegation war zuerst verwirrt, dann erfreut und einige der Jüngeren sogar begeistert über den Empfang in der Bundesrepublik. Tausende von Menschen überall, die Gorbatschow Beifall klatschten und unübersehbar ihre Sympathie ausdrückten. So etwas hatte es im deutsch-sowjetischen Verhältnis noch nicht gegeben – auch nicht in der DDR , wo der Staatschef zwar von vielen Menschen geschätzt wurde, die strenge staatliche Überwachung jede spontane Sympathiebekundung jedoch unmöglich machte. Die Freundschaftsbezeugungen in der Bundesrepublik dagegen, die alle alten Vorbehalte zu überlagern schienen, kamen für die Russen vollkommen unerwartet und waren doch ein hoffnungsvolles Zeichen. In den konservativen Führungskreisen der KPDSU allerdings blieb die Stimmung der Bundesrepublik gegenüber so stark von Argwohn geprägt, dass Gorbatschow aus seinem Publikumserfolg in Westdeutschland keinen Gewinn ziehen konnte. Im Gegenteil, viele seiner Kollegen in der Parteispitze schienen ihm nun ein verstärktes Misstrauen entgegenzubringen.
Es war in Moskau immer schwer gewesen, an Informationen über politische Entscheidungsträger heranzukommen. Wie die Lebensläufe der Funktionäre in den höheren Ebenen von Zentralkomitee und Politbüro aussahen und wie diese ihre Politik machten, war für Ausländer kaum zu ergründen. Sowjetbürger wagten es lange nicht, darüber zu sprechen. Doch im Laufe des Jahres 1989 wurde der Austausch spürbar offener, wenn ich mich mit Freunden und Mitarbeitern über Gorbatschow unterhielt. Manche aus seiner Umgebung, deren Reformprojekte abgelehnt wurden, äußerten sich durchaus enttäuscht über ihn. Die von ihm propagierte Glasnost war in ihren Augen zu eingeschränkt, sie forderten noch größere Offenheit und Meinungsfreiheit. Andere klagten
Weitere Kostenlose Bücher