Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
kannten, um einige Zeilen mitzusingen. Die Begeisterung war groß, aber dann fand Joan Baez, sie möchte doch einmal in Russland vor einem normalen Publikum singen und nicht bloß vor ausgewählten Künstlern und Intellektuellen. Also gingen wir zum eigentlichen Restaurant hinunter, wo natürlich auch kein normales Publikum saß, sondern die Kinder der neu entstehenden Oberschicht Wange an Wange tanzten. Dabei ließen sie sich zuerst nur ungern unterbrechen, aber nachdem Joan Baez und Bulat Okudschawa begonnen hatten, rührten sie sich fast zwei Stunden lang nicht von ihren Plätzen und konnten ihre Begeisterung auch lange danach kaum zügeln.
Es gab andere Gelegenheiten, die Liebe junger Moskauer zu westlicher Kultur und amerikanischer Musik kennenzulernen. Alexej Bataschow war ein Physiker an der Akademie der Wissenschaften und privat ein großer Jazzfan und Konzertorganisator. Er kannte sämtliche Jazzmusiker von Sibirien bis Litauen, die von keiner Konzertagentur vermittelt wurden, aber durch ihn immer wieder einmal einen Aufführungsort für ein Konzert fanden. Bataschow hatte gehört, dass im »Zentralinstitut der Blinden der Sowjetunion« ein sehr großer Saal fast immer ungenutzt war, und besorgte sich die Erlaubnis, dort eine Vortragsreihe über die Musik der unterdrückten und ausgebeuteten Schwarzen Amerikas zu veranstalten. Tatsächlich dauerten die Vorträge selten länger als fünf Minuten, dann kamen schon die Musiker auf die Bühne, um ein paar Beispiele vorzuführen, und schließlich ging das Ganze in ein Konzert mit Free Jazz, Cool Jazz und witzigen Experimenten über. Solange das Thema des Abends nur ideologisch einwandfrei und antiamerikanisch klang, vertrieb sie niemand aus dem Blindeninstitut.
Andere Musikfreunde fanden ähnliche Auswege. Das kleine Ensemble von Dmitri Pokrowski sang Lieder, die viel älter als die Sowjetunion waren und in abgelegenen Dörfern überlebt hatten: traurig, frech, unanständig und, wie er sagte, »unlackiert«, also anders als die »Konservatoriumsfolklore« der großen, auch im Ausland bewunderten staatlichen Chöre. Die Konzertsäle waren ihnen versperrt, aber oft wurden sie in Institute der Akademie der Wissenschaften eingeladen, etwa zu den Atomphysikern, die sich allerlei Freiheiten herausnehmen konnten. Es war als Ausländer nicht leicht, in diese Konzerte zu gelangen, aber mit Hilfe jüngerer Professoren schaffte ich es manchmal an der Einlasskontrolle vorbei. Dort sah ich an den Wänden dann auch abstrakte oder expressionistische Gemälde junger russischer Maler, die unter dem Patronat bedeutender Wissenschaftler als inoffizielle Ausstellung aufgehängt worden waren und denen man sonst nirgends in Moskau begegnete.
Noch schwieriger war es mit Kontakten zu jungen, avantgardistischen Komponisten. Die Aufführungen ihrer Werke hätten nur der Komponistenverband und staatliche Konzertagenturen ermöglichen können, doch gerade die lehnten die Musik der Avantgarde ab. Die Komponisten hatten daher kaum eine Chance, ihre Werke zu präsentieren, allenfalls, wenn das Mosfilm-Studio einen Science-Fiction-Film vertonen wollte. Als der Westdeutsche Rundfunk in einem Kammermusikkonzert in Köln Werke von sieben jungen sowjetischen Komponisten mit großem Erfolg vorstellte – natürlich ohne dass die Künstler selbst in Deutschland dabei sein durften –, überschlug sich die sowjetische Presse in der Verurteilung dieser Musik. Der Chef des Komponistenverbands, der dreißig Jahre zuvor sogar Dmitri Schostakowitsch als einen unbegabten Abweichler von der sowjetischen Kunst getadelt hatte, beschimpfte die sieben Musiker als landesverräterische Formalisten.
Manchmal jedoch konnten die jungen Komponisten und ihre Freunde die Kulturfunktionäre überlisten. 1980 , im Jahr der Olympischen Sommerspiele in Moskau, brachten sie eine Sinfonie des jungen Wjatscheslaw Artjomow zu einer offiziellen Freiluftaufführung. Das Stück hieß »Der Weg zum Olymp« und passierte die Kontrolle, weil die Behörde den Titel als einen willkommenen Hinweis auf die Olympiade deutete. Den ausländischen Gästen würde das Eindruck machen, meinten die Funktionäre wohl, mir schien aber, sie überschätzten das Interesse ausländischer Sportsfreunde an avantgardistischer Musik. Das Kulturministerium zahlte Artjomow ein Honorar von 44 Rubeln – wenig genug, aber doch ziemlich viel für einen Mann, der in seinem Zimmer wochenlang hauptsächlich von Kartoffeln, Karotten und Heringen lebte.
Immer
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