Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Gorbatschow-Interview zu sprechen. Tausende von Studenten hatten sich seit Tagen auf dem Tiananmen-Platz versammelt. Es waren Bilder, wie ich sie dreizehn Jahre zuvor bei den großen Demonstrationen nach dem Tode Zhou Enlais gesehen hatte. Aber diesmal war die Zahl der protestierenden Studenten um vieles größer. Sie waren besser organisiert und formulierten ihre Forderungen nach Presse- und Redefreiheit und die Proteste gegen Korruption und hohe Lebenshaltungskosten von Anfang an präzise und eindrücklich. Gorbatschow und seine engsten Mitarbeiter waren bei den Verhandlungen von der Außenwelt vollkommen abgeschlossen, so dass sie gar nicht richtig begriffen, was auf dem Tiananmen-Platz vor sich ging. Alexander Jakowlew, Gorbatschows engster Berater, hatte auf dem Weg zur nächsten Besprechung für ein paar Minuten den Anschluss an die Delegation verloren und fragte uns Journalisten, warum so viele junge Leute die sowjetischen Gäste begrüßen wollten. So hatte er zumindest die Erklärung seiner chinesischen Gastgeber verstanden. Höchst erstaunt hörte er von uns, dass dies keine begeisterte Begrüßung, sondern eine riesige Protestaktion gegen die Regierung war.
Mein Kamerateam und ich waren sehr schnell von der Masse der jungen Leute auf dem Platz eingeschlossen, und wir bemerkten, dass sie wiederum keine Ahnung hatten, was für eine ausländische Delegation da durch ihre Demonstrationsversammlung geleitet wurde. Sehr viel mehr als sie wussten wir Korrespondenten über den Verlauf der Verhandlungen in der Großen Halle des Volkes allerdings auch nicht. Erst einige Jahre später wurde klar, dass eine Übereinkunft von weltpolitischer Bedeutung getroffen worden war. Sowjets und Chinesen erkannten den Verlauf der fünftausend Kilometer langen chinesisch-sowjetischen Grenze an, und der zwanzigjährige Streit, den Mao Tsetung mit seinem Anspruch auf riesige Gebiete Sibiriens entfesselt hatte, wurde beigelegt. Dieser Schritt zur Entspannung an Chinas und Russlands Grenze war ein wichtiger außenpolitischer Erfolg Gorbatschows, aber er ging unter in den Nachrichten von den großen Zusammenstößen. Zwei Wochen nach dem Besuch des sowjetischen Staatschefs setzte die chinesische Führung in Peking und mehreren Hundert Städten die Armee ein, um die Demonstrationsbewegung der Studenten zu zerschlagen. Zum zweiten Mal hatte ich auf dem Tiananmen-Platz den Protest einer jungen Generation erlebt und dann erfahren, wie brutal sich die konservativen Machtpolitiker gegen die politischen Reformer durchsetzten. Bis heute ist unbekannt geblieben, wie viele der protestierenden Studenten ihr Leben verloren – Hunderte oder Tausende. Es gibt noch immer keine offizielle Zahl, sondern nur sich widersprechende Berichte aus verschiedenen Quellen, die unüberprüfbar geblieben sind.
Unser Team flog nach Moskau zurück, immer noch ohne Bilder für ein Gorbatschow-Porträt. Obwohl es weder eine mündliche noch eine schriftliche Zusage gab, begann ich gemeinsam mit einem russischen Kollegen aus dem ARD -Studio herumzutelefonieren, unterstützt von Lena Korenewskaja, einer alten russischen Bekannten aus den fünfziger Jahren, einer couragierten Person, die sich nun wieder traute, mir zu helfen. Sie hatte eine ganze Liste von Leuten, die Gorbatschow gut gekannt haben sollten. Nun musste man sie finden und zu Interviews überreden. Mit den ersten Aufnahmen hatten wir Glück: In Stawropol, am Rande des Kaukasus, erwartete uns der Leiter des dortigen Fernsehstudios, ein unbürokratischer Kosake, bauernschlau und selbstbewusst. Er fand, dass es in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje nichts zu verbergen gebe. Er kannte einige der Bauern im Dorf und auch den Leiter des Kolchos, der nicht nur ein üppiges rustikales Essen für uns vorbereitet hatte, sondern auch den üblichen Vortrag über die Erfolge der Landwirtschaftspolitik der Partei. Ich fürchtete schon, wir würden wieder einmal routinemäßig abgespeist, da ging es plötzlich weiter. Wir liefen zur kleinen Schule, wo uns Gorbatschows erste Lehrerin in Empfang nahm. Später dann trafen wir ein paar ältere Männer, die in ihren Sonntagsanzügen auf uns warteten: Freunde aus seiner Jugend. Sie erzählten von dem anstrengenden Leben der Jungs in einem Bauerndorf.
Wir durften auch das Haus von Gorbatschows Mutter filmen, aber nur aus einiger Entfernung. Die Mutter blieb unsichtbar. Maria Pantelejewna Gorbatschowa hatte nur einmal einem russischen Kollegen ein Interview gegeben, das in der
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