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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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darüber, dass er zu viele Kompromisse mit den Funktionären aus dem Partei- und Militärapparat gemacht und sich dadurch seinen konservativen Gegnern ausgeliefert habe. Anders als zur Zeit seiner Vorgänger, so mein Eindruck, schien sich Gorbatschow jedoch im Rahmen der innenpolitischen Möglichkeiten ernsthaft darum zu bemühen, eine Rückwendung zum alten verknöcherten System zu verhindern. Er sei, wie er viele Jahre später selbst sagte, kein Revolutionär gewesen, der das Land in einen von oben kontrollierten Prozess der Umgestaltung zwingen wollte, wozu es Jahre oder Jahrzehnte strenger Disziplinierung gebraucht hätte. Unter dem Schlagwort Perestroika – Umbau – versuchte Gorbatschow, Schritt für Schritt die alte Führungsschicht von Partei, Armee und Wirtschaft auszuwechseln, das Leben in der Sowjetunion moderner, erträglicher und auf lange Sicht demokratischer zu machen. Eine schnelle und durchgreifende Veränderung der Innenpolitik, eine sogenannte Sozialdemokratisierung, schien ihm dagegen gefährlich.
    Ein Jahr nach Gorbatschows Besuch in Bonn war Deutschland auf dem Weg zur Wiedervereinigung. Im November 1989 war die Mauer in Berlin gefallen, ein halbes Jahr später, im Mai 1990, hatten die Zwei-plus-Vier-Gespräche begonnen, in denen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs mit den beiden deutschen Staaten über die außenpolitischen Voraussetzungen einer Wiedervereinigung verhandelten. Während sich die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion jahrelang in einer Grauzone bewegt hatten, bemühte man sich in dieser unerwarteten Umbruchsituation um Annäherung und Interessenausgleich. Die Bundesrepublik hatte begonnen, die Sowjetunion durch die Lieferung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und durch einen Kredit von über fünf Milliarden D-Mark zu unterstützen. Für Mitte Juli war ein Besuch des deutschen Bundeskanzlers in der Sowjetunion geplant, bei dem zentrale gegenseitige Bedingungen für eine deutsche Wiedervereinigung ausgehandelt werden sollten. Im Vorfeld zeigten sich Gorbatschows Berater etwas verwundert, dass Bonn sein Interesse an der Frage einer nahen Wiedervereinigung so wenig offen äußerte und stets mehr von der Stabilisierung in Mittel- und Osteuropa und einer Absicherung des Status quo sprach. Dass Helmut Kohl die Frage der deutschen Einheit mit Geduld zurückzustellen schien, wirkte auf meine sowjetischen Gesprächspartner letztlich jedoch eher beruhigend. Dabei war man in Moskau längst weiter: Gorbatschow und seine engeren außenpolitischen Mitarbeiter erhofften sich, durch deutsche Wirtschaftshilfen und engere Beziehungen zu einem größeren vereinten Deutschland den Verlust des sowjetischen Einflusses in Mitteleuropa zu kompensieren. Der westdeutsche Botschafter bis 1989 in Moskau, Andreas Meyer-Landrut, hatte schon während seiner Amtszeit nach Bonn gemeldet: Nach seinen Informationen werde Gorbatschow die Vereinigungsfrage sehr bald auf die Tagesordnung setzen. In Washington hatte Präsident Bush Anfang Juni im Gespräch mit Gorbatschow weitere Schritte zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten empfohlen. Der Boden war also weitgehend bereitet, als Bundeskanzler Kohl am 14. Juli 1990 in die sowjetische Hauptstadt reiste.
    Am nächsten Tag genügten tatsächlich wenige Verhandlungsstunden, um in zentralen Fragen Übereinkünfte zu erzielen. Dass die sowjetische Seite dem vereinten Deutschland den Verbleib in der NATO und die volle Souveränität zugestand, war die entscheidende Nachricht für die deutsche Delegation. Gorbatschow hatte ihnen damit eine große Hürde auf dem Weg zur Wiedervereinigung beiseitegeräumt. Die weiteren Bilder vom Besuch erweckten dann auch nicht zufällig den Eindruck eines außerordentlich harmonischen Familientreffens. Noch am 15. Juli reiste Gorbatschow mit Kohl per Hubschrauber in sein Heimatdorf in den Kaukasus, um dann mit ihm zu seiner Datscha weiterzufliegen, die er sich ein Jahr zuvor hatte bauen lassen. Ich war mit unserem Team mitgereist, wusste aber nicht, wo dieses Sommerhaus lag. Doch ich hatte Glück und bekam einen Tipp von einem sowjetischen Kollegen, dem Leiter des Regionalfernsehens von Stawropol. Ich kannte ihn von Wanderungen und Abenden am Lagerfeuer und fragte, ob er wisse, wo Gorbatschow und Kohl hinführen. Zunächst wich er aus, sagte dann aber einen Augenblick später: »Ach, was hatten wir für eine schöne Zeit hier oben. Du würdest sicher auch gern zurückkommen. Weißt du noch, wo das war?«

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