Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
freundlich und sagte: »Steig ein, Junge, du kannst ein Stück mitfahren.« Am Übergang über den Kanal kontrollierte ein Posten die Papiere, die eine englische Dienststelle für die Fahrt zu Verhandlungen mit britischen Stabsoffizieren in der Nähe von Hamburg ausgestellt hatte. Man ließ unseren Wagen passieren. Den Fahrer und mich beachteten sie gar nicht. Auf der anderen Seite des Kanals war der Krieg für mich nun wirklich und endgültig zu Ende.
Weiter ging es per Anhalter. Am Abend, kurz vor der Sperrstunde, stand ich vor dem Haus meiner Großmutter in Aumühle. Wiedersehensfreude und Tränen bei der Großmutter, und dann die schlechte Nachricht, dass meine Mutter nach einer Operation vierzig Kilometer entfernt im Krankenhaus lag. Das Telefon funktionierte immer noch nicht, und so konnte ich ihr die gute Nachricht meiner Rückkehr nicht sofort mitteilen. Das Haus meiner Großmutter war unverändert, überhaupt war im ganzen Ort nichts zerstört. Aumühle war kampflos besetzt worden, nachdem der Bürgermeister mit weißer Fahne auf die englischen Truppen zugegangen war, erzählte mir meine Großmutter. Zum Glück hatten hier keine fanatischen Werwölfe einen Guerillakrieg entfachen wollen, wie ihn die HJ -Führer zuvor mit großen drohenden Worten angekündigt hatten. Es war wenig los auf den Straßen, kein Verkehr, überall herrschte eine scheinbar friedliche Stille. Zehn Tage ehe die englischen Soldaten durchmarschiert waren, hatte meine Großmutter die halbjüdische Mutter der von mir verehrten Organistin doch noch aufgenommen und im Taubenstall versteckt. So kurz vor dem Ende schien ihr das Risiko für unsere Familie nicht mehr so groß, und sie hätte es sich nicht verziehen, wenn die alte Frau noch in letzter Stunde verschleppt worden wäre. Die englischen Soldaten sah sie nicht als Feinde an, aber auch nicht dankbar als Befreier. Ein kleiner Trupp war mit einem Metallsuchgerät in ihren Garten gekommen, hatte ihr Tafelsilber gefunden, ausgegraben und mitgenommen – das Beste, was sie nach den Bombenangriffen und der Zerstörung ihrer Stadtwohnung noch besessen hatte.
Ich suchte nach meinen Freunden. Wie ich feststellte, hatten alle die letzten Kriegsmonate überlebt. Die Nachricht, dass ich zurück sei, gaben sie von Mund zu Mund weiter, und einige meldeten sich bald bei mir. Der jüdische junge Mann aus dem Chor, der manchmal bei mir übernachtet hatte, ließ mir einen Gruß und ein kurzes Gedicht zukommen. »Nun wird sich alles wenden«, schrieb er. Als wir dann zum ersten Mal wieder zusammensaßen und mehr sangen als redeten, gab mir auch die Chorleiterin ein kleines Gedicht. »O Gerd! Entbehrt durchs Schwert im frühen Jahr! Unterernährt, doch nicht versehrt, am eigenen Herd nun wieder da. Ob unbelehrt und ganz verkehrt, ob leicht verstört – wer weiß es ja. Tenorbewährt und geistbeschwert, von uns verehrt, hoch, hoch, hurra.« Es schien alles wie früher, und doch war alles anders. Wir wussten nur noch nicht, wie.
In diesen ersten Wochen nach meiner Rückkehr musste ich einen Weg in das normale, unerwartet langweilige Alltagsleben finden. In Hamburg meldete ich mich zum Steineklopfen in den Trümmern. Das war ein Beitrag zum Wiederaufbau und, so sagte man, die Voraussetzung, um später einmal an der Universität aufgenommen zu werden. Die war allerdings noch geschlossen, und niemand wusste, wann und mit welchen Professoren sie wieder ihre Tore öffnen würde. So hockten ein paar Freunde und ich täglich in den Trümmern der Hamburger Häuser – ein paar junge Männer, die nicht in Kriegsgefangenschaft waren, und viele Frauen jeden Alters, die man zum Trümmerdienst geholt hatte. Wir alle arbeiteten für unsere Lebensmittelkarten, für die schmalen Rationen, die uns zugeteilt wurden. Manchmal hungerten wir, konnten uns aber irgendwie durchschlagen. Auf die großen Schwarzmärkte, die es in jedem Viertel gab, musste man viel Geld mitbringen, und das besaß ich nicht oder nur ganz selten, wenn es mir etwa gelungen war, ein Paar gut erhaltene Schuhe, eine Jacke oder einen Rock aus den häuslichen Kleiderschränken zu verkaufen – für alte Reichsmark, die das Ende des Reichs fast wertlos überlebt hatten. Wir hätten alle gerne mehr zu essen gehabt und etwas Besseres anzuziehen als die aufgetragenen, von Verwandten geerbten Klamotten, aber dafür diskutierten und lasen wir, wanderten durch Antiquariate, deren Bücher für uns zu teuer waren, entdeckten gebrauchte Paperbacks, die
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