Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
beruhige dich mal.«
Fünfundvierziger
Journalistische Anfänge 1945–1949
Einen Tag, nachdem wir die deutsche Grenze erreicht hatten, marschierten wir weiter, in Kolonnen geordnet, aber nun gar nicht mehr zackig im Gleichschritt, sondern eher nachlässig. Ich bekam nicht mehr viel davon mit, denn ich hatte hohes Fieber und konnte kaum noch laufen. Nach drei Tagen lieferten mich meine Kameraden schließlich in der Nähe von Husum in ein Lazarett ein. Die Diagnose: Typhus, gefährlich und ansteckend, also Quarantäne. Ich lag in einem ganz gewöhnlichen Wehrmachtslazarett, wo es kaum anders zuging als in einem Kleinstadtkrankenhaus. Kämpfe hatte es in dieser Gegend nicht gegeben und das Lazarett arbeitete nun fast unverändert weiter.
In meinem Zimmerchen in der Seuchenabteilung döste ich mit Fieber vor mich hin. Als es wieder besser ging, versuchte ich von den Sanitätern und Patienten mehr über die Außenwelt zu erfahren, aber sie wussten nur wenig zu erzählen oder hatten das meiste schon verdrängt. Die dreitausend KZ -Häftlinge aus vielen Ländern, die hier noch einige Monate zuvor täglich durch die Stadt marschieren mussten, waren für sie schon in der Vergangenheit versunken. Unser Horizont war auf die nähere Umgebung des Lazaretts beschränkt. Der Krieg war vorbei und verloren, doch in den ersten Monaten lebten wir hier, am nördlichsten Zipfel Deutschlands, als hätte sich kaum etwas geändert. Ohne dass ein Schuss gefallen war, hatten die Engländer in ihrer Besatzungszone das Kommando übernommen. Die deutschen Offiziere und Ärzte unterstanden englischen Kommandanten, aber die sahen sie nur selten, und Anweisungen und Befehle bekamen sie von ihnen kaum. Die Wehrmachtsstrukturen blieben vorerst unverändert bestehen. Dieselben Offiziere wie vorher gaben die Befehle, nur dass sie nun selbst offiziell Kriegsgefangene waren, die andere Kriegsgefangene befehligten und von Fall zu Fall noch wegen mangelnden Gehorsams vor ein deutsches Kriegsgericht bringen konnten. »Die können einen glatt noch erschießen lassen«, sagte mein Zimmernachbar, ein Unteroffizier. Das Gerücht ging um, dass wir alle nach England abtransportiert würden, wo wir die nächsten Jahre in Lagern leben und die zerstörten Städte wiederaufbauen müssten. Das war keine angenehme Aussicht, aber auch nicht mehr als eine durch »Latrinenparolen« erzeugte Sorge, mit der man uns disziplinierte. Für mich war das eine unheimliche, seltsam erstarrte Welt: Die Machthaber hatten den Krieg verloren, und wir sollten weiter gehorchen wie bisher. Nur so könne die Ordnung aufrechterhalten und Schlimmeres vermieden werden, sagten die Offiziere. Ich hatte mir das Ende von Krieg und Naziherrschaft anders vorgestellt.
Dann war diese seltsame Gefangenschaft ganz überraschend für mich vorbei. Nach fast zwei Monaten im Lazarett kamen zwei Ärzte zu mir und erklärten nach einer kurzen, oberflächlichen Untersuchung, ich sei einigermaßen gesund, jedenfalls nicht mehr ansteckend, und würde in den nächsten Tagen entlassen. Allerdings nicht, wie ich zuerst fürchtete, zu meinem alten Bataillon, sondern direkt nach Hause. Solange ich noch nicht siebzehn sei, gelte ich nicht als Kriegsgefangener, hatten die Ärzte herausgefunden. Also sollte ich machen, dass ich wegkäme. Zwei Tage später gaben sie mir einen Entlassungsschein. Da hatte ich noch ungefähr zehn Tage Zeit bis zu meinem siebzehnten Geburtstag und machte mich auf den Weg ins Unbekannte.
Ich trug meine schäbige Uniform, aber ohne irgendwelche Abzeichen. Einen Dienstrang hatte ich ja nicht gehabt. Am Rande von Husum nahm mich ein Pferdewagen mit, der mit Milchkannen beladen und unterwegs zu einer Molkerei war. Als Oberschüler oder Soldat wäre ich nicht weitergekommen, aber der Molkereichef kannte meinen Großvater in Hamburg, und so hatte ich es leichter, einen Lkw zu finden, der mich nach Süden mitnahm. Schließlich stand ich zehn Kilometer vor dem Kaiser-Wilhelm-Kanal, der heute Nord-Ostsee-Kanal heißt und damals die Südgrenze des großen Kriegsgefangenenbezirks bildete. Ein Geländewagen hielt an, zwei deutsche Offiziere riefen mich in festem Befehlston zu sich und fragten, was ich da machte. Ich sei auf dem Weg vom Lazarett nach Hause, entlassen, weil ich ja noch keine siebzehn Jahre sei. So etwas hatten die beiden, ein Hauptmann und ein Oberstleutnant, noch nie gehört, und sie studierten den Entlassungsschein zunächst misstrauisch. Dann wurde der Ältere plötzlich
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