Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
amerikanische Soldaten verkauft hatten, und stießen schließlich auf eine neue Literatur, deren Bücher wegen der Papierknappheit wie Zeitungen gedruckt wurden – in Hamburg von Ernst Rowohlt erfunden und verlegt. Da hätte ich auch gerne Verleger werden wollen.
Als die ersten Verwaltungsstellen der Universität wieder zu arbeiten anfingen, stellte ich fest, dass mein Notabitur nicht anerkannt wurde. Ich hatte das Abschlusszeugnis bekommen, als ich zur Wehrmacht eingezogen wurde, aber nun lachten die Schulbeamten nur darüber, weil ich junger Spund mir einbildete, damit gleich studieren zu können. Es werde sowieso viel zu viele Studienbewerber mit gültigem Abiturzeugnis geben, wenn die ehemaligen Soldaten zurückkehrten. Die seien ein paar Jahre älter als ich und hätten noch lange Vorrang. Also zurück in die Obersekunda. Das Wilhelm-Gymnasium gehörte zu den ersten Oberschulen in Hamburg, die wieder den Betrieb aufnahmen. Die Lehrer waren jedoch alle sehr alt und viele von ihnen eigentlich schon pensioniert. Man hatte die Schulbücher »gesäubert« und alles, was mit Politik zu tun hatte, entfernt. Die deutsche Geschichte hörte im Mittelalter auf. Überlebt hatten eigentlich nur Mathematik sowie Naturwissenschaften und im Deutschunterricht mehr Grammatik als Literatur.
Ich fand diesen Unterricht unerträglich. Die Jungen in meiner Klasse waren ebenso alt wie ich, aber sie hatten nur das normale Schul- und HJ -Leben hinter sich und wussten mit mir so wenig anzufangen wie ich mit ihnen. Ein erstes wiedereröffnetes Tutorium, ein privater Weg zum Externen-Abitur, schien da schon vielversprechender. Hier kamen ältere Schüler und Schülerinnen zusammen, die bereits Erfahrung im Leben hatten, und unterrichtet wurden wir von jüngeren Lehrern, die gern mit uns diskutierten. Aber dann teilte die Hamburger Schulbehörde mit, dass eine Abiturprüfung für Externe noch für längere Zeit nicht möglich sei. Wieder musste ich einen Umweg suchen und fand ihn diesmal in einer Dolmetscherschule, wo ich Englisch und Russisch belegte. Englisch fand ich sowieso notwendig. Russisch reizte mich, weil es die Sprache der Sowjetunion war, dem Siegerland, das die Heimat einer neuen Gesellschaftsform mit eigenem Lebensgefühl sein sollte – dem Sozialismus. Ich hatte gerade begonnen, mich einzulesen: Ein neues Antiquariat in der Innenstadt, das sich auf Bücher der zwanziger Jahre spezialisierte, zog mich an. Da gab es in den Regalen Mann, Brecht und Toller, Gedichte des deutschen Expressionismus und eben auch Marx, Trotzki und Lenin. Ich hockte mich da in eine Ecke und blätterte durch die Bücher, manchmal eine oder zwei Stunden lang. Die beiden Antiquare fanden mich offenkundig nett und ließen mich in Ruhe schmökern, weil sie sahen, dass ich mich für Bücher interessierte, die zum Teil vorher verboten gewesen waren. Kaufen konnte ich sie nicht, aber Geld spielte ja ohnehin noch keine große Rolle. Unter meinen Bekannten hatte keiner welches.
Auf der Suche nach neuen politischen Erkenntnissen war ich bei Kommunismus und Sozialismus hängengeblieben. Hier kündigte sich eine radikale und in meinen Augen notwendige Systemänderung an. Auch wenn die Hitlerpartei verboten und diskreditiert war, schien mir eine Rückkehr in die politische Welt der zwanziger Jahre, in die gescheiterte bürgerliche Demokratie, nicht möglich. Die Wiedergründung der alten Parteien durch Sozialdemokraten und Liberale war aus meiner Sicht eine Wiederauflage der Parteien von vor 1933 , die damals versagt hatten. Die CDU war mir als eine »kapitalistische« Partei ganz verdächtig. Wo gab es die Sicherheit, dass die Großindustriellen, die Nationalisten und Militaristen, die Hitler unterstützt hatten, nicht wieder den Kurs bestimmten? Für einen wirklichen Neuanfang schienen daher nur die Kommunisten in Frage zu kommen. Da ging es mir wie manchen gleichaltrigen Freunden. Mit einem von ihnen saß ich besonders oft zusammen, wir rollten aus Tabakresten unsere Zigaretten und suchten die Wahrheit. Ralf Dahrendorf stammte aus einer sozialdemokratischen Familie, hegte nun aber Vorbehalte gegen die Partei seines Vaters und seines Onkels und war ebenfalls auf der Suche. Manchmal stritten wir uns und lagen im Denken quer zueinander, wenn der eine die marxistisch-sozialistischen Lösungen für zuverlässig hielt, während der andere die mangelnde Meinungs- und Diskussionsfreiheit und die versteinerte Theoriedebatte bei den Kommunisten kritisierte.
Ralf
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