Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Dahrendorf, der später ein international bekannter Sozialwissenschaftler war und als Rektor der London School of Economics von der englischen Königin geadelt wurde, reiste für einige Wochen nach Berlin und kam mit großen Vorbehalten gegen die neugegründete SED zurück. Ich war noch in dem Versuch gefangen, die ersten Gruppen der FDJ , der Freien Deutschen Jugend, in Schleswig-Holstein zu gründen. Ganz wohl war dabei aber auch mir nicht mehr: Die Mischung von Ideen der vornazistischen Jugendbewegung mit einer bürokratisch gefärbten Klassenkampfideologie, wie wir das damals ausdrückten, löste bald Misstrauen und Kritik bei Ralf und mir aus. Daraufhin erschien ein Hamburger KP -Funktionär, sicher doppelt so alt wie wir, um uns mit fertigem Propagandamaterial und einem starren ideologischen Korsett zu versorgen. Das aber war endgültig nichts mehr für uns.
Wir suchten weiter nach politischen Antworten. Es gab nichts Linkes, das wir ausschlossen. Einmal landete ich auf meiner Suche in einer Kellerwohnung nahe dem Bahnhof. Hier, so hatte ich gehört, befände sich das Hauptquartier der Anarchosyndikalisten, einer Gruppe, die für Arbeiterselbstverwaltung und für direkte Demokratie bis hinauf in die höchste Staatsführung eintrat und im Spanischen Bürgerkrieg unabhängig von den Kommunisten gegen Franco gekämpft hatte. Da traf ich allerdings nur drei ältere Männer an, die einzigen organisierten Anarchisten von Hamburg – wiederum eine Enttäuschung. Mit den Trotzkisten erging es uns ähnlich, obwohl sie die besseren Diskussionspartner waren und viel Kluges über Stalins Diktatur und die Fehlentwicklung des Marxismus zu sagen wussten. Etwas später, Anfang 1947 , entdeckten wir das Buch Jenseits des Kapitalismus , unter Pseudonym von Richard Löwenthal geschrieben, einem der gescheitesten Emigranten, der inzwischen aus England zurückgekehrt war. Was er an Überlegungen vortrug, wurde für uns und für viele jüngere Leute zum Handbuch einer demokratisch-sozialistischen Politik. Die Analyse der Vergangenheit und die Hoffnung auf politische Chancen der Zukunft faszinierten mich.
Ich wollte nach wie vor unbedingt auf die Universität, aber was ich studieren wollte, wusste ich nicht genau. Eine Mischung aus Volkswirtschaft, Geschichte und Kunstgeschichte hätte mir gefallen, und unerwartet schien sich auch ein Zugang zum Studium zu eröffnen, ein Vorkurs für ehemalige Soldaten, die ohne gültiges Abiturzeugnis vor ihrem Studium eingezogen worden waren. Plötzlich schien auch mein Notabitur wieder etwas wert. Ich durfte mich zwischen die ehemaligen Landser und künftigen Akademiker setzen. Sie waren im Schnitt fünf Jahre älter als ich und hatten es schwer, wieder an einen Studienplan anzuknüpfen, der bei ihnen lange zurücklag. Mir machte es weniger Schwierigkeiten und viel Spaß. Meine Abschlussarbeit akzeptierten die Lehrer allerdings nur widerwillig. Der Inhalt war schwer zu bewerten, der Titel suspekt: »Die Malerei des deutschen Expressionismus«. Mein Wissen darüber hatte ich von den zwei Malerinnen im Landschulheim erworben und aus älteren Büchern zusammengelesen. Was ich schrieb, war vielleicht nicht so klug, wie ich dachte. Dem Lehrerkollegium aber waren Namen wie Nolde und Barlach, Kirchner und Marc völlig fremd. Sie ließen mich trotzdem die Prüfung bestehen, und ich erfuhr, dass ich nun damit rechnen könne, in zwei bis drei Jahren zum Studium zugelassen zu werden. Erst hätten Ältere den Vorrang. Das war erneut eine Enttäuschung, aber ganz so schrecklich war es auch wieder nicht, denn zwei Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs wussten ich und fast alle meiner Altersgenossen sowieso noch nicht, wie unsere Zukunft aussehen könnte.
Und dann hatte ich Glück: Durch einen Zufall kam ich in Kontakt mit Axel Eggebrecht, einem Rundfunkmann der ersten Stunde, der für den Nordwestdeutschen Rundfunk ( NWDR ), die Rundfunkanstalt in der britischen Besatzungszone, arbeitete. Ich hatte in einem evangelischen Jugendzentrum an einem Gespräch über »Religion heute« teilgenommen und mit meinen Äußerungen über die Rolle der Kirchen im Nazireich Ärgernis erregt. Besonders mutig und bibeltreu hätten die Kirchen sich ja nicht gezeigt, hatte ich gesagt. Danach lud mich Axel Eggebrecht erneut zu einer Diskussion ein, und die Jugendredaktion schickte mich manchmal zu kleinen Reportagen aus. Ein weiterer Vorteil war, dass ich ab und zu in die Kantine des NWDR gehen durfte. Da gab es – ohne
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