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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Lebensmittelmarken – Grießpudding mit einer Soße aus Süßstoff und künstlichem Orangeat oder ähnliche Magenfüller.
    Schließlich wollte ich auch einmal eine Glosse für die tägliche Sendung Echo des Tages schreiben. Das wäre Anfang 1947 beinahe meine letzte Arbeit für den Rundfunk geworden. Ein älterer Kollege hatte mir vorgeschlagen – vielleicht um mich hereinzulegen –, ein kleines Stück über »Demontagen und Reparationen im Alten Testament« zu machen, also darüber, wie man schon in biblischer Zeit mit besiegten Gegnern umging. Das Thema war hochaktuell und gefährlich aufgeladen, weil in diesen Wochen Hamburger Hafenanlagen und Werften demontiert und in die Sowjetunion transportiert werden sollten. Die Hamburger fürchteten um die Zukunft der Stadt, die Arbeiter und die Gewerkschaften hatten Angst um Arbeitsplätze und Lohn. Die öffentliche Erregung war groß, die Proteste gegen die Siegermächte drohten zu eskalieren; bei der kommunistischen Partei in Hamburg war die Empörung allerdings gebremst durch die Tatsache, dass die Werften in die Sowjetunion verlegt werden sollten. Jung und naiv war ich in ein Wespennest gestiegen. Einer der britischen Kontrolloffiziere vermutete hinter meinem Beitrag neonazistische oder nationalistische Propaganda. Er überwachte unsere Sendungen gewöhnlich mit viel Sinn für Diskussionen und Meinungsfreiheit, aber nun beschloss er einzugreifen und ein Exempel zu statuieren. Ab sofort, so teilte er mit, sei ich als Rundfunkautor gesperrt. Bei aller Liebe zur Pressefreiheit, aber das, was ich da geliefert hätte, gehe einfach zu weit. Ich schien mal wieder am Ende, als ich unerwartet aufgefordert wurde, mich beim obersten Chef des Funkhauses zu melden.
    Der Mann, der mich in seinem Büro erwartete, hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt. Böse und hart sah er nicht aus, und eine vorwurfsvolle Miene machte er auch nicht. Hugh Carleton Greene war vor dem Krieg ein englischer Auslandskorrespondent mit Erfahrungen in Deutschland und anderen Ländern Mitteleuropas gewesen und hatte dann beim deutschsprachigen Dienst der BBC gearbeitet, ehe er nach Kriegsende eingesetzt wurde, ein neugegründetes Sendersystem in der britischen Besatzungszone zu leiten. Viele Jahre später wurde er der erfolgreiche und bewunderte Generaldirektor der BBC . Greene kam gleich zur Sache. Was ich da geschrieben hätte, egal, ob richtig oder falsch, wolle er nicht senden. Ich solle es noch mal lesen, dann würde ich das selbst einsehen. Er blätterte dabei in Texten, die ich für NWDR -Redaktionen, meistens den Jugendfunk, verfasst hatte, und sagte dann, das sei gar nicht schlecht, aber ich müsse nun mal nicht nur schreiben, sondern auch denken lernen, und dazu könne ich auf die Rundfunkschule gehen. Ich wollte ihn aufklären: Ich sei zu jung für die Rundfunkschule – gerade erst achtzehn, für die Aufnahme sei aber zweiundzwanzig das Mindestalter. Außerdem seien für den ersten Kurs, der gerade im Januar 1947 begonnen habe, unter vierhundert Bewerbern nur zwanzig ausgewählt worden. Da hätte ich also keine Chance. Greene kehrte daraufhin den Chef hervor, der meine Aufnahme in die Rundfunkschule durchsetzen konnte. Tatsächlich hatte er bei den beiden Leitern des Kurses schon vorgefühlt. Sein Angebot musste ich einfach annehmen, zumal ich ahnte, dass hier Weichen für meine Zukunft gestellt wurden. Nach der Rundfunkschule würde ich weitersehen, erst mal in eine Rundfunkredaktion, zum Studium bliebe später noch Zeit genug. Ein Glücksfall.
    Eine richtige Schule war diese Rundfunkschule eigentlich nicht, eher ein Experimentierfeld. Neben Vorträgen und Diskussionen wurden verschiedene Formen von Sendungen ausprobiert. Viel praktische Erfahrung damit hatte keiner von den etwa fünfundzwanzig jungen Kursteilnehmern, aber dafür zeichnete die meisten eine bemerkenswerte Neugier aus. Für viele war es die erste Begegnung mit einer Form von intellektueller und politischer Auseinandersetzung, deren Wurzeln direkt auf die Zeit vor 1933 zurückgingen. Die »Lehrer« waren in ihrer Mehrheit deutsche Emigranten. Einige hatten die Nazijahre in England verbracht und den Stil der BBC übernommen, der sich in seiner Gelassenheit völlig von der fanatischen Erregung und dem Propagandadonner des NS -Reichsrundfunks unterschied. Zwei andere waren als Kommunisten in die Sowjetunion geflohen, hatten dort den Deutschen Dienst von Radio Moskau aufgebaut und sich schließlich der Stalin-Diktatur entzogen,

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