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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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wenigen Stunden vom politischen Kalkül überlagert. Manche sahen in Adenauers Geste nur Berechnung. Der Kanzler selbst bemerkte später einmal, er habe ganz impulsiv gehandelt. So haben es damals die russischen Zuschauer im Bolschoi-Theater und auch ich empfunden. Die Erinnerung an den Krieg war noch immer so lebendig und die Furcht vor einem neuen Konflikt so groß, dass das Bild der beiden Männer einen Ausbruch echten Gefühls ausgelöst hatte. Mein Eindruck war, dass Adenauer die Bedeutung dieses Augenblicks erkannt hatte.
    Der dritte Verhandlungstag war ein Kontrastprogramm. Erst ein Protokollbesuch Adenauers beim Moskauer Oberbürgermeister und dann eine Besichtigung der Kreml-Museen. Parallel dazu Gespräche der Außenminister Molotow und Brentano, der beiden größten Zweifler am Sinn dieser Verhandlungen. Wie erwartet, produzierten sie Missverständnisse und Verärgerung. Im deutschen Sonderzug, in dem sich viele aus der deutschen Delegation trafen, forderten einige daraufhin, man solle sofort abreisen. Bundespressechef von Eckardt erzählte später, er habe in einem offenen, unverschlüsselten Telefongespräch eine Lufthansa-Maschine aus Deutschland für den vorzeitigen Rückflug angefordert. Ob Adenauer selbst den Einfall mit dieser unausgesprochenen Abreisedrohung gehabt hatte, konnten wir Journalisten nicht herausfinden, und ob die sowjetische Seite darauf reagierte, erfuhren wir erst recht nicht.
    Meinen Kollegen und mir schien es, als sei die Luft aus den Verhandlungen nun endgültig heraus. Jetzt stehe nur noch das abendliche Schlusszeremoniell an, so dachten wir. Tatsächlich wurde dieses dann auch mit allem zaristischen wie sowjetischen Pomp abgewickelt, ein großer Empfang im Kreml für mehrere Hundert Gäste. Salutierende Gardisten standen auf den Stufen der großen Treppe zum Georgssaal. Eine dicke rote Kordel trennte die Sowjetführer und die deutsche Delegation von der Masse der Gäste. Die meisten Reden wurden vom Blatt gehalten, wirkten präzis abgestimmt und enthielten keine Überraschungen: das Ende einer ergebnislosen Großkonferenz. Dann jedoch sah ich, wie Ministerpräsident Bulganin den deutschen Bundeskanzler am Arm nahm und, gefolgt von den beiden Dolmetschern, mit ihm zur Seite des Saals ging. Die anderen Gäste, mit dem Champagner- oder Wodkaglas in der Hand, betrieben derweil weiter Konversation, während zwischen Adenauer und Bulganin ein intensives Gespräch entstand. Die Dolmetscher haben es in ihren Notizen festgehalten.
    Nach drei langen Tagen begann Bulganin mit der Frage: »Wie wollen wir nun diese Verhandlungen abschließen?« Adenauer wiederholte die Formeln vom ersten Tag und sagte mit bewegter Stimme, er habe den festen und aufrechten Willen, den Frieden zu sichern und die Verhandlungen deshalb zu einem guten Ende zu führen. Es entstand eine Pause, dann sagte Adenauer, er wolle in der Offenheit und Ehrlichkeit bis zum Letzten gehen: Die Frage der Kriegsgefangenen und anderer in der Sowjetunion lebender Deutscher sei nach allem, was das deutsche Volk habe durchmachen müssen, von außerordentlicher psychologischer Bedeutung. Ohne eine Lösung dieser Frage könne eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Bonn und Moskau der deutschen Öffentlichkeit nicht zugemutet werden. Er bat Bulganin – im Protokoll eines der Dolmetscher steht das Adjektiv »inständig« –, wenigstens einen Schritt in diese Richtung zu tun. In den letzten zwei Jahren seien Briefe von hundertdreißigtausend Deutschen eingegangen, die aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik ausreisen wollten. Die Briefe lägen vor, so Adenauer, aber er wolle die Atmosphäre der Verhandlungen nicht dadurch stören, dass er auch dieses Material auf den Tisch lege. Bulganin nickte: Im Fall der Aufnahme diplomatischer Beziehungen könnten alle diese Personen freigegeben werden.
    Wir Journalisten drängelten uns an der roten Kordel und sahen, dass das Gespräch zwischen den beiden nicht im Streit endete. Adenauer, der Wochen vorher den westlichen Regierungen erklärt hatte, dass eine gegenseitige diplomatische Anerkennung zwischen Moskau und Bonn nicht in Frage komme, sagte nun zu Bulganin, dieser habe ihn mit seinen Worten ganz glücklich gemacht. Bulganin wiederum gab dem Bundeskanzler das Ehrenwort der Sowjetregierung und wiederholte mehrere Male, das Wort werde gehalten. Nach Tagen angespannter Verhandlungen kam der Durchbruch also am Rande eines Kreml-Empfangs. Unter den deutschen Delegierten fragten manche

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