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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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hatte, zu Wort und hielt eine kluge und menschlich eindrucksvolle Rede. Er bat die Sowjets darum, Gnade walten und die »Festgehaltenen« zu ihren Frauen, Kindern und Eltern zurückkehren zu lassen. Da applaudierte Chruschtschow und sagte: »Das ist das rechte Wort auf die rechte Art.« Jetzt könne man weitersprechen. Erregung und Schärfe waren damit vorerst aus der Diskussion genommen.
    Nachmittags war von den Spannungen des Vormittags kaum noch etwas zu spüren. Der Kanzler hatte die sowjetischen Delegierten auf seine Datscha eingeladen – in das Landhaus, das ihm die Russen zur Verfügung gestellt hatten. Chruschtschow erschien in einer buntbestickten Russenbluse, und Adenauer überreichte ihm als Gastgeschenk eine Flasche Schwarzwälder Kirsch, den Chruschtschow sogleich probierte, aber zu stark fand. Die Deutschen waren überrascht. Adenauer selbst hatte seine Mitarbeiter darauf vorbereitet, dass russische Gastgeber enorm trinkfest seien, und ihnen vor Beginn des Empfangs einen Esslöffel Olivenöl verpassen lassen. Ganz so gefährlich wurde es dann doch nicht, die Stimmung war vergleichsweise freundlich und unverkrampft. Dem Pressechef der Bundesregierung, Felix von Eckardt, gelang es, Journalisten durch das Tor auf das Gelände der Datscha zu lotsen. Das war zwar gegen alle Spielregeln, aber die Polizisten gestatteten uns dennoch den Zutritt. Dann ließen sich die sowjetischen und deutschen Gäste im Garten und im Haus zu allen möglichen, keineswegs protokollregulierten Fotos bewegen. Irgendwann wurde es Ministerpräsident Bulganin zu bunt, und er fragte, ob er auch noch auf einen Baum klettern solle. So locker hatten wir uns die Begegnung zwischen sowjetischen Führern und deutschen Gästen nicht vorgestellt, jedenfalls passte der Eindruck nicht recht zu den Informationen über angeblich laute Auseinandersetzungen während der Verhandlungen. Wie ich später von einem der russischen Dolmetscher erfuhr, unterhielt sich Adenauer an diesem Nachmittag mit Chruschtschow sehr allgemein über Weltpolitik, über Düsenflugzeuge, über Dinge des persönlichen Lebens. Es war ein fast zwangloses Gespräch, das manchem aus der deutschen Delegation missfiel, Adenauer selbst aber außerordentlich wichtig war. Unter uns Journalisten waren viele enttäuscht von der Belanglosigkeit dessen, was wir aus zweiter Hand hörten.
    Am Abend saßen wir mit einigen Hundert sowjetischen Zuschauern im Bolschoi-Theater und sahen nicht nur die große und weltberühmte Aufführung des Balletts Romeo und Julia , sondern auch einen bewegenden Auftritt des sowjetischen und des deutschen Regierungschefs. Schon als Bulganin und Adenauer die Zarenloge betraten, erhob sich das russische Publikum und begrüßte die beiden mit großem Beifall. In der Pause, als es in einem Nebenraum hinter der Zarenloge Kaviar und Wodka gab, wurde einigen konservativeren Mitgliedern der deutschen Delegation das Klima der Verbrüderung fast unheimlich. Im Vorfeld der Reise hatte man in Bonn gerätselt, wie wohl Staatssekretär Hans Globke in Moskau aufgenommen würde – ein Mann, der in Hitlers Reichsinnenministerium die juristischen Grundlagen der Judenverfolgung mitformuliert hatte. Aber anders als einige befürchteten, gab es keine kritischen Hinweise auf seine Vergangenheit, wie man sie aus der DDR -Presse kannte. Im Gegenteil: In der weißgoldenen Zarenloge des Bolschoi-Theaters trat Chruschtschow auf Globke zu, ließ zwei Gläser Wodka einschenken und gratulierte ihm zum Geburtstag. Sie tranken in einem Zug aus, ließen nachschenken und tauschten die Gläser. Man konnte glauben, sie hätten Bruderschaft getrunken.
    Getanzt von der großen Galina Ulanowa, erlebte das Publikum den Kampf zwischen den Geschlechtern Montague und Capulet und den Tod Julias und Romeos. Als sich die Väter auf der Bühne über den Leichen ihrer Kinder in die Arme fielen, erhoben sich Bulganin und Adenauer von ihren Sitzen und fassten sich an den Händen. Den Zuschauern schien es, als würden die beiden sich ebenfalls gleich in die Arme fallen. Im Saal und auf den Rängen des Bolschoi-Theaters applaudierten die Menschen begeistert und gerührt. Ihr Beifall galt nicht nur der Ulanowa, sondern den beiden alten Männern, die da in einer Geste der Versöhnung in der goldenen Loge verharrten. Auch bei den meisten Mitgliedern der deutschen Delegation löste sich die Anspannung. Dieser Eindruck allerdings, das merkte ich in den Gesprächen mit Delegationsmitgliedern, wurde schon nach

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