Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
defensiven Ausrichtung der deutschen Wiederbewaffnung im Rahmen der neuen Verträge, die gerade mit Amerika, Frankreich und England geschlossen worden waren. Die Frage der deutschen Einheit nannte er eine Sache der großen Vier. Die Normalisierung der Beziehungen aber könne erst beginnen, wenn die letzten deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion freigelassen und heimgekehrt seien. Die Grundsatzerklärungen der beiden Seiten waren sehr ausführlich und in ihrer Stoßrichtung völlig unterschiedlich, und man trennte sich ohne Diskussion.
Es folgte eine Verhandlungspause mit dreistündigem Mittagessen und sehr vielen Trinksprüchen. Adenauer trank mit Chruschtschow und Bulganin auf ex. Der SPD -Politiker Carlo Schmid, ein großer, gewichtiger Mann, wurde von Chruschtschow als »Gospodin Velikaja Germanija«, als »Herr Großdeutschland«, angesprochen und er trank seinen Wodka wie ein Russe aus dem Wasserglas, was sogar Chruschtschow beunruhigte. Außenminister Brentano versuchte, Adenauer zum Abschied zu bewegen und die Begegnung zu beenden. Aber Chruschtschow und Bulganin protestierten dagegen, auch weil Adenauer mit seiner Schlagfertigkeit immer wieder Gelächter hervorrief. Chruschtschow sprach von der sozialen Fürsorge und den Lebensbedingungen der Bevölkerung, die er verbessern wolle. Adenauer sagte darauf: »Dann können Sie ja bei uns der CDU beitreten.« Chruschtschow: »Sie würden mich ja nicht nehmen.« Adenauer: »Bei Ihrem Sozialprogramm gehören Sie zu uns.« So entstand eine Stimmung, wie sie auf deutscher Seite nur Adenauer schaffen konnte. Die beiden Außenminister, Molotow und Brentano, hörten bei alldem nur mit ernsten Mienen zu.
Die meisten deutschen Delegationsmitglieder hatten zwar in Bonn Handbücher mit Informationen über die Themen und russischen Partner bekommen, aber auf diese Art von Verhandlungen waren sie nicht vorbereitet. Adenauer baute sehr auf den Kontakt mit Ministerpräsident Bulganin, vielleicht weil er ihm schon einmal Anfang der dreißiger Jahre in Köln begegnet war – er als Oberbürgermeister von Köln, Bulganin als Oberbürgermeister von Moskau. Daraus hatte sich jenseits aller Ideologie ein gewisser Respekt zwischen zwei Amtsinhabern entwickelt. Zweifellos hielt Adenauer anfänglich Bulganin für den entscheidenden Mann und Chruschtschow nur für einen, der sich immer wieder vordrängte. Vertrauenerweckender auf die Deutschen wirkte Bulganin mit seinem Spitzbärtchen und seiner altväterlichen Art allemal. Außenminister Molotow dagegen erschien ihnen als Mann aus der zweiten Reihe. Georgi Malenkow, kurz zuvor noch Ministerpräsident, saß meistens schweigsam dabei, und viele aus der deutschen Delegation hielten ihn für einen eher nachdenklichen Intellektuellen. Carlo Schmid erzählte mir später, Malenkow könne sogar Latein. Die deutschen Teilnehmer neigten jedenfalls dazu, aus Gesten und Bemerkungen ihrer Gesprächspartner allzu weitreichende Schlüsse zu ziehen: Bulganin etwa sei ein Russe wie aus vorrevolutionären Zeiten, ein Mann, wie man ihn in der klassischen Literatur beschrieben finde. Der spätere Außenminister Gromyko sei unverkennbar der Spross einer Adelsfamilie und so weiter.
Auf der sowjetischen Seite hatte Valentin Falin, der spätere Botschafter in Bonn, die Aufgabe gehabt, Tausende von Seiten aus westlichen Veröffentlichungen über Adenauer durchzuarbeiten. Daraus war zweifellos eine ernsthafte Studie geworden, aber niemand weiß, inwieweit sie Chruschtschow tatsächlich beeinflusst hat. Ein großer Leser war der nämlich nicht. Gromyko wiederum soll Adenauer in einer Notiz für sein Amt als »reaktionären Superpedanten« charakterisiert haben, als einen Mann, der davon träume, Ostdeutschland zu verschlingen. Vielleicht hatte Chruschtschow diese Einschätzung im Hinterkopf, als er dem deutschen Delegationschef im Verhandlungssaal gegenübersaß – die Wortwechsel waren jedenfalls ungewöhnlich genug. Und sie waren keineswegs immer freundlich.
Am Konferenztisch hatten sich Szenen mit Gefühls- und Wutausbrüchen ereignet, die an Dramatik alles übertrafen, was die deutschen Politiker und Diplomaten auf internationalen Konferenzen mit westlichen Mächten je erlebt hatten. Chruschtschow redete Adenauer in der Erregung manchmal mit »Du, Konrad« an, drohte mit den Fäusten, Adenauer drohte zurück. Chruschtschow schrie, Adenauer beleidige das sowjetische Volk, wenn er behaupte, auch sowjetische Soldaten in Deutschland hätten schreckliche
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