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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Dinge getan. Adenauer wehrte sich entschieden gegen den Vorwurf, er sei ein Kriegstreiber, der Hitlers Politik gegen die Sowjetunion wiederaufnehmen wolle. Wenn sich die Gelegenheit geboten hätte, beteuerte Adenauer, hätte er Hitler mit eigenen Händen erwürgt.
    Der Zusammenprall der Meinungen und der Temperamente zeigte nur, wie tief das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen von Erinnerungen und Emotionen geprägt war. Am Verhandlungstisch hatte Adenauer bei Chruschtschow für Empörung gesorgt, als er die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen zur Vorbedingung für verbesserte Beziehungen machte. Aber Adenauer rechnete damit, dass eine solche Freilassung unter Umständen der einzige Erfolg sein könnte, der für ihn in Moskau zu erzielen war. Und so hielt er daran fest, obwohl sein Berater Herbert Blankenhorn gewarnt hatte, ein derartiges Insistieren könne dazu führen, dass die sowjetische Seite an die fast sechs Millionen Kriegsgefangenen in den deutschen Lagern erinnerte. Die Hälfte von ihnen hatte die Wehrmacht verhungern lassen oder umgebracht. Ebenso gefährlich war es, die Leiden der Deutschen unter sowjetischer Besatzung in die Diskussion zu bringen, denn immerhin hatte Hitlers brutaler Eroberungskrieg 15 Millionen ziviler Sowjetbürger das Leben gekostet.
    Was Adenauers Berater nicht wussten: Chruschtschow und Bulganin wollten die Frage der Kriegsopfer und besonders der Kriegsgefangenen nicht in einen langen Streit einbeziehen, weil sie fürchteten, im eigenen Land die Erinnerung an jene kriegsgefangenen Russen zu wecken, die das Elend der deutschen Lager überlebt hatten und nach ihrer Rückkehr als Landesverräter in sibirischen Lagern eingesperrt worden waren. Chruschtschow schob die Frage der Kriegsgefangenen deshalb zunächst an den Rand der Diskussion, um sie für die Endphase der Verhandlungen bereitzuhalten. Er hatte in den letzten Wochen vor der Adenauer-Reise die DDR -Regierung darauf vorbereiten lassen, dass Moskau bereit sei, das Thema einzubringen. Die meisten Gefangenen hatten inzwischen an der etwas verbesserten Versorgung bemerkt, dass sich eine Änderung ihrer Lage abzeichnete. Das allerdings war Adenauer und den deutschen Unterhändlern nicht bekannt, als der Bundeskanzler in der ersten Sitzung ihre Freilassung als Vorbedingung einer Übereinkunft erwähnte.
    So begann der zweite Verhandlungstag in einer völlig anderen Tonart als der erste. Bulganin griff Adenauers Bemerkung über die Kriegsgefangenen auf und sprach nun von den Verbrechen der Hitler-Armee, von den Morden an Frauen, Kindern und Greisen, von Zehntausenden Opfern in Kiew und der Schlucht in Babi Jar. Bis dahin hatte niemand in der Sowjetunion diesen Massenmord an den Juden erwähnt. Bulganin sprach ganz erregt: »Kann man die Tonnen von Haaren vergessen, die den zu Tode gemarterten Frauen in Majdanek abgeschnitten wurden?« Niemals hatten er oder andere Sowjetführer solche Nazigräuel so klar benannt und beschrieben. Adenauer antwortete spontan und ohne Notizen, man dürfe sich nicht entgegenschreien, was einer dem anderen vorwerfe, doch dann sprach er selbst davon, dass auch in der von der Sowjetarmee besetzten Zone viele entsetzliche Dinge vorgefallen seien.
    Es war genau die Art von Diskussion, die Adenauer eigentlich hatte vermeiden wollen. Die Mitglieder der deutschen Delegation waren überrascht, dass der Kanzler solche Anschuldigungen erhob. In den internen Beratungen zuvor hatte er von allen Zurückhaltung gefordert, und nun löste er selbst die härteste Auseinandersetzung der deutsch-russischen Verhandlungen aus. Chruschtschow rief: »Wo sind denn die sowjetischen Männer, die im Krieg umkamen? In der Erde. In der sowjetischen Erde.« Dabei soll er aufgestanden sein und Adenauer mit den Fäusten gedroht haben. Adenauer berichtet in seinen Memoiren, auch er sei aufgestanden und habe seine Fäuste gegen Chruschtschow erhoben. Nun warf Chruschtschow in höchst emotionaler Form dem deutschen Bundeskanzler vor, er wolle die Wiedervereinigung nur, damit ganz Deutschland Mitglied der NATO und Todfeind der Sowjetunion und des sowjetischen Volkes werden könne. So ging es nun stundenlang hin und her. Russische und deutsche Delegationsmitglieder erzählten mir später kopfschüttelnd von diesem verbissenen Streit.
    Schließlich meldete sich der SPD -Politiker Carlo Schmid, den Adenauer eigentlich nicht als Verhandlungsteilnehmer, sondern nur als eine Art würdevollen politischen Beobachter mitgenommen

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