Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
hochpolitisch waren. Es waren vernünftige Leute darunter, nicht bloß flache Propagandisten, und mit einem Kollegen, dem Historiker Lew Besymenski, blieb ich fast fünfzig Jahre lang bis zu seinem Tod befreundet. Eine gewisse Distanz zwischen uns blieb dennoch bestehen, und erst nach dem Ende der Sowjetunion erzählte er mir, dass er zu den Wenigen gehört habe, die den toten Hitler im Führerbunker gesehen hätten.
Freilich blieb immer die Frage, ob ein Gesprächspartner, so freundlich er sein mochte, nicht jede unserer Äußerungen dem KGB meldete. Sekretärinnen, Fahrer und Hausangestellte mussten angeblich einmal in der Woche zusammenfassend Bericht erstatten, üblicherweise, so sagte man, am Mittwochnachmittag. Und letztlich wurde auch uns Ausländern durch das sowjetische System ein tiefes Misstrauen eingeimpft. Als mir das UPDK eines Tages eine Sekretärin und Dolmetscherin schickte, warnten mich einige Kollegen davor, in ihrer Anwesenheit über Politik zu sprechen. Aber gerade deshalb verstand ich nicht, warum man Ljubow Golowanowa ausgesucht hatte. Sie war alles andere als eine gut organisierte Geheimdienstagentin. Ich merkte sehr bald, dass sie von politischen Dingen so gut wie keine Ahnung hatte. Die Lektüre der großen Zeitungen langweilte sie, und die Leitartikel verstand sie bestenfalls ungefähr. Wenn sie für mich vormittags die Provinzzeitungen durchging, machte sie mich vorzugsweise auf Skandalgeschichten aufmerksam: Meldungen über Halbstarken-Krawalle, unmoralische Mädchen, Betrügereien in der Landwirtschaft. Sie meinte offenbar, ausländische Journalisten suchten für ihre Zeitungen Skandale aus der Sowjetunion, und außerdem kam es wohl ihren eigenen Interessen entgegen.
Ljubow Golowanowas große Liebe aber war die Bühne. Sie konnte stundenlang über Schauspieler und Schauspielerinnen erzählen und tat nichts lieber, als Karten für uns beide zu organisieren. Immerhin kam ich auf diese Weise zu einigen ungewöhnlichen Theaterbesuchen. Als die berühmte Galina Ulanowa im Ballett Romeo und Julia auftrat, führte mich Frau Golowanowa zu einem Nebeneingang des Bolschoi-Theaters. Ein älterer Herr empfing uns mit tiefer Verbeugung und führte uns in die Intendantenloge. Ich habe nie erfahren, als wen sie mich ausgegeben hat.
Eines Tages bat sie mich um Hilfe bei einer Übersetzung aus dem Deutschen. Für den Verlag des Komponistenverbandes sollte sie Mozarts Briefe an seine Cousine ins Russische übertragen. Sie kam mit der verspielten Sprache nicht zurecht, und eigentlich fand sie manche von Mozarts Scherzen auch etwas unanständig. Ich konnte ihr nicht wirklich helfen, und die Übersetzung ist am Ende wohl nie erschienen. Aber dass so ein Projekt überhaupt versucht wurde, fand ich bemerkenswert, und ein wenig veränderte es auch mein Bild vom kollektiv vorgestanzten russischen Intellektuellen.
Ljubow Golowanowa hatte ihre eigene Skandalgeschichte, die sie mir nach einiger Zeit erzählte. Am Schwarzen Meer hatte sie im Urlaub einen Mann kennengelernt, war mit ihm tanzen gegangen und traf ihn dann in Moskau wieder. Nun hatte sie herausgefunden, dass er nicht bloß verheiratet, sondern obendrein ein stellvertretender Unionsminister war. In Moskau konnte er sich nicht mit ihr zeigen. Er wollte sie auf seine Datscha mitnehmen, aber das schien ihr zu unmoralisch. Manchmal ließ er sich bei zugezogenen Gardinen in seinem Dienstwagen mit ihr durch die Stadt chauffieren. Einige Wochen lang erzählte sie mir fast täglich davon, dann versickerte die Romanze irgendwie. Für mich blieb die Frage, wie sie die verschiedenen Elemente von Liebe und Überwachung in ein sowjetisches Frauenleben zusammenfügen konnte, und natürlich auch, was sie wohl dem KGB über mich berichtet hat.
Die seltsam verspannte Atmosphäre in Moskau führte dazu, dass wir die lebhaftesten Unterhaltungen dort hatten, wo man sie am wenigsten erwartete: im Kreml und auf Botschaftsempfängen. Wenn eine ausländische Regierungsdelegation zu Besuch war, gab es in der Regel einen großen Empfang im russischen Regierungssitz und einen Gegenempfang der ausländischen Gäste in den Botschaften ihrer Länder. Bei diesen Gelegenheiten durften wir Korrespondenten auf ein Zusammentreffen mit Nikita Chruschtschow hoffen, der gegenüber Ausländern nicht vor lauten und deutlichen Worten zurückschreckte. Wenn er mit uns zusammenkam, redete sich der Parteiführer der KPdSU den Ärger des Tages von der Seele, mit einer Offenheit, die es sonst
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