Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
die anderen und weniger bärbeißig. Sie wusste, dass ich Journalist war, und erwähnte, dass ihr Mann als Redakteur bei der satirischen Zeitschrift Krokodil arbeitete, die wegen ihrer witzigen Aufarbeitung des sowjetischen Alltagslebens beliebt war. Von da an war die Frau immer freundlich zu mir und gab mir manchmal einen Tipp: »Heute ist wieder ein heißer Abend«, warnte sie etwa, wenn in der Hotelhalle oder vor dem Eingang besonders viele Bewacher warteten. Als ich die Treppe hinabging, hörte ich dann, wie sie halblaut ins Telefon sprach – wahrscheinlich, um mich bei den Bewachern anzukündigen.
Als ich mein Visum bei der Sowjetbotschaft in Bonn abgeholt hatte, hatte ich mich vorsichtig nach den Zensurbestimmungen in Moskau erkundigt. »Zensur?«, sagte der Presseattaché. »In der Sowjetunion gibt es keine Zensur.« In Moskau erfuhr ich dann aber von dem Dutzend westlicher Korrespondenten, dass keine Meldung und kein Bericht unzensiert übermittelt werden konnte. Schon der Versuch, die Redaktionskollegen in Köln anzurufen und mit ihnen über einen langweiligen Leitartikel der Prawda zu sprechen, endete nach wenigen Sekunden. Die Leitung war tot. Westliche Kollegen erklärten mir schließlich die Spielregeln: Alle Artikel waren maschinengeschrieben an einem Schalter im zentralen Telegrafenamt einzureichen. Den Text durfte man erst dann telefonisch durchgeben – und das auch nur vom Telegrafenamt aus –, wenn man ihn mit dem Stempelaufdruck »Glawlit« zurückbekommen hatte, der Abkürzung für »Hauptverwaltung für Literatur«. Ohne die Genehmigung von »Glawlit« durfte in der Sowjetunion kein Zeitungsartikel, kein Gedicht, kein Lehrbuch erscheinen und auch keine Meldung eines Korrespondenten ins Ausland übermittelt werden. Manchmal waren unsere Berichte mit Bleistift zusammengestrichen. Gelegentlich erhielt man sein Manuskript erst nach Stunden oder Tagen zurück; zehn bis zwanzig Minuten für einen Routinebericht waren normal. Als ich ein paar Monate später in Deutschland auf Urlaub war, machte ich den schon erwähnten Presseattaché höflich darauf aufmerksam, dass seine Kenntnis der Regeln für ausländische Berichterstatter nicht ganz vollständig sei. »Ach, das war es, was Sie meinten«, sagte er daraufhin. »Das ist keine Zensur, das ist eine Hilfe, damit durch Missverständnisse und Irrtümer keine Fehlinformationen veröffentlicht werden.«
Wirklich persönliche und private Gespräche mit Sowjetbürgern blieben die Ausnahme. Die Moskauer lebten in einem schwierigen Spannungsfeld. Drei Jahre nach Stalins Tod lag sein Schatten noch immer über dem Land. Die Zeit der großen Massenverhaftungen und Hinrichtungen war zwar vorbei, aber selbst jetzt noch konnte der kleinste Kontakt mit Ausländern Verdacht erregen oder gar zur Verhaftung führen. Wenn wir ausländischen Journalisten im zentralen Telegrafenamt saßen und auf die Rückgabe unserer Manuskripte warteten, beobachteten uns Russen, die hier ein Auslandsgespräch angemeldet hatten. Wir redeten zu laut und zu viel, machten Witze, wenn uns die Langeweile packte, versuchten mit den Telegrafenbeamtinnen hinter den Schaltern über das Wetter und die Gesundheit zu schwatzen. Die anderen im Raum sprachen nicht miteinander und schon gar nicht mit uns Ausländern. Mit verschlossenen Mienen warteten sie darauf, aufgerufen zu werden.
Gelegenheit für ausführlichere Unterhaltungen gab es nur aus dienstlichem Anlass: bei offiziellen Interviews, Fabrikbesichtigungen, Begegnungen auf Empfängen von Regierungsstellen und Botschaften. Mitunter luden sowjetische Journalisten zu einem Gespräch ein. Da ging es dann in der Regel darum, uns ausländische Korrespondenten mit Informationen zu versorgen, die in keinem sowjetischen Organ veröffentlicht worden waren, von denen der KGB aber meinte, wir sollten sie in unseren Heimatländern verbreiten. Meistens drehte es sich um Fragen der Außenbeziehungen und um Versuche, im Ausland eine ungünstige Wahrnehmung von sowjetischen Maßnahmen zu korrigieren. Wir nannten die russischen Kollegen, die uns solche Informationen zukommen ließen, die »Halbleiter«. Einige von ihnen waren angenehme Gesprächspartner, neugierig darauf, wie Journalisten aus dem Westen die Welt betrachteten. Wir redeten mit ihnen nicht nur über die Themen, für die sie auf uns angesetzt waren, sondern tauschten uns auch über Film, Theater und Literatur aus und sprachen ein bisschen über unser Leben und über Ereignisse, die nicht gerade
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