Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
zusammengeheftete Seiten mit auf der Maschine geschriebenen russischen Gedichten von Pasternak. Eine Dreiviertelstunde ließen sie mich stehen und diskutierten aufgeregt in einem Nebenzimmer über ihren Fund. Schließlich kamen zwei der Offiziere und gaben mir die Texte zurück. Da unter jedem Gedicht eine Fußnote mit Datum und dem Namen einer sowjetischen Literaturzeitschrift stand, waren sie zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gedichte bereits veröffentlicht worden seien und somit die sowjetische Zensur schon passiert hätten. Weder die Zollbeamten noch ich wussten, dass nur sieben der dreiunddreißig Gedichte tatsächlich 1956 in der literarischen Zeitschrift Snamja gedruckt worden, die übrigen Angaben in den Fußnoten jedoch freie Erfindungen waren. Verehrer von Pasternak, mit ziemlicher Sicherheit russische Emigranten, hatten die neuen Texte in den Westen geschmuggelt, vervielfältigt und mir nach Moskau mitgegeben, damit Pasternak sie noch einmal korrigieren könne: Ehe sie im Ausland gedruckt würden, wollte er sie unbedingt noch einmal kritisch ansehen. (In Deutschland, wo sie 1960 im S. Fischer Verlag erschienen, hat sie der Slawist Rolf-Dietrich Keil einfühlsam übersetzt, der als Adenauers Dolmetscher an der Kanzlerreise nach Moskau teilgenommen hatte.) Es waren keine politischen Bekenntnisse oder Aufrufe, sondern lyrische Naturskizzen und Erinnerungen an die Liebe zwischen Menschen, getragen von dem großen Aufatmen nach Stalins Tod. Der Titel des Gedichtbands klang hoffnungsvoll: Wenn es aufklart. Immer mehr Zollbeamte und, wie mir schien, vor allem Zollbeamtinnen hatten die Texte einander gezeigt. So hatte ich langsam und unbemerkt meinen zweiten Koffer mit dem Fuß am Schalter vorbeischieben können. Eingepackt in Hemden und Pullover lagen darin die ersten sechs gebundenen Exemplare von Doktor Schiwago in englischer Sprache.
Je mehr sich die Gerüchte über einen Nobelpreis für Pasternak verdichteten, desto häufiger trafen Briefe französischer und englischer Schriftsteller bei ihm ein, die ihm im Voraus gratulierten. Auf Veranstaltungen, die der kommunistische Jugendverband Komsomol in der Universität organisierte, fragten Studenten immer drängender danach, was denn Doktor Schiwago für ein Roman sei und warum man ihn im Ausland eher lesen könne als in Russland. Die Antworten fielen immer gleich aus: Gegen Pasternak selbst habe man nichts, er sei ein großer Lyriker, der einen solchen Preis für seine Gedichte verdient hätte. Sein Roman Doktor Schiwago aber sei wertlos und verleumderisch. Von ausländischen Korrespondenten befragt, sagte Kulturminister Michailow, der Roman sei schwach, aber Pasternak sei ein guter Lyriker und großer Übersetzer. Am 23. Oktober 1958 kamen Nachbarn zu Pasternak und berichteten ihm von einer Meldung der BBC : Er sei der aussichtsreichste Kandidat für den Literaturnobelpreis, und die Bekanntgabe werde wohl am Nachmittag erfolgen. Pasternak zog sich seinen Mantel an, setzte die alte Schirmmütze auf und ging hinaus in den strömenden Regen. Uns Korrespondenten, die wir ihm später zur Verkündigung gratulieren wollten, hatte er nicht viel zu sagen. An seinem Haus versammelten sich Nachbarn und Freunde, um diesen Tag mit ihm zu feiern. Glückwunschtelegramme ausländischer Dichter und Schriftsteller trafen ein, und schließlich überbrachte ein Bote vom Telegrafenamt die offizielle Benachrichtigung, dass ihm der Nobelpreis verliehen worden war. Es schien ein gutes Zeichen zu sein, dass die sowjetische Post nicht den Auftrag hatte, die Telegramme zurückzuhalten.
Unterdessen bereitete man sich jedoch in den Redaktionen, insbesondere bei den Organen des Schriftstellerverbandes, schon auf den Gegenschlag vor. Pasternaks Roman sei eine übelriechende Schmähschrift und die Verleihung des Nobelpreises ein sorgfältig geplanter Akt ideologischer Wühlarbeit, so hieß es in einer offiziellen Erklärung des Verbandes. »Der innere Emigrant Schiwago, von kleinmütiger und niederträchtiger Spießernatur, ist den Sowjetmenschen ebenso fremd wie der gehässige literarische Snob Pasternak. Man muss entweder mit jenen gehen, die den Kommunismus aufbauen, oder mit denen, die seinen Vormarsch aufhalten wollen. Pasternak hat den Weg der Schande und Ehrlosigkeit gewählt.« Die Pressekampagne steigerte sich von Tag zu Tag. Auf einer Massenversammlung von Jungkommunisten, an der Nikita Chruschtschow teilnahm, nannte der Komsomol-Chef Pasternak »ein Schwein, das in den eigenen
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