Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
gekürzten Fassung gedruckt worden, sagte er zu seinen Freunden. Es vergingen Monate, in denen eine Stelle der anderen die Verantwortung zuschob. Die Entscheidung zögerte sich immer weiter hinaus – am Ende sollte es noch drei Jahrzehnte dauern, bis Doktor Schiwago offiziell in der Sowjetunion erscheinen durfte. Allerdings lag das Manuskript mittlerweile in Mailand auf dem Schreibtisch des kommunistischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli. Ein italienischer Kommunist, der beim Schriftstellerverband in Moskau als Lektor arbeitete, hatte Feltrinelli eine Kopie des Manuskripts geschickt, als die Veröffentlichung in der Sowjetunion noch kurz bevorzustehen schien. Um nun eine italienische Ausgabe zu verhindern, wurde der erste Sekretär des sowjetischen Schriftstellerverbands, Alexej Surkow, nach Mailand in Marsch gesetzt. Nichts in seiner Karriere hatte Surkow auf feinfühlig-diplomatische Gespräche mit italienischen Intellektuellen vorbereitet. Er drohte ihnen mit dem Ausschluss aus der kommunistischen Partei, falls sie die Veröffentlichung von Doktor Schiwago unterstützten. Feltrinelli trat daraufhin aus der kommunistischen Partei aus, viele seiner Mitstreiter waren über die versuchte Einflussnahme verärgert und verstört, und die Geschichte erregte am Ende internationales Aufsehen. Ausländische Beobachter nahmen sie zum Anlass, an das Schicksal sowjetischer Dichter und Schriftsteller und an die große Zahl der Verhaftungen und Selbstmorde unter Stalin zu erinnern. Nachdem dann der Roman 1957 in Italien erschienen war, kam schließlich auch das Gerücht auf, Pasternak sei der nächste Kandidat für den Literaturnobelpreis. In dieser Situation beschloss das sowjetische Staatskomitee für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland, uns westliche Korrespondenten zu einem Besuch der Schriftstellerkolonie Peredelkino einzuladen. Wir sollten einmal mit eigenen Augen sehen, dass Pasternak doch ganz gut lebte.
Ich wusste, dass Boris Pasternak, der Übersetzer von Faust I und Faust II , gut Deutsch können musste, und bat darum, ihn allein und nicht zusammen mit den englischen und amerikanischen Kollegen besuchen zu dürfen. Der Bitte wurde entsprochen, und so fuhr mich ein Chauffeur Ende 1957 in einem großen schwarzen Mietwagen nach Peredelkino, über die Dreißig-Kilometer-Zone hinaus, an der meine Reisefreiheit normalerweise endete. In der Schriftstellerkolonie, die Stalin in den dreißiger Jahren hatte erbauen lassen, bewohnte Pasternak eine zweistöckige Datscha am Waldrand. Hier stand nun ein großer Mann lachend auf der Treppe und winkte mir zu – ein ungewöhnlicher Empfang in der Sowjetunion mit ihrer von Vorsicht und Misstrauen geprägten Atmosphäre. Die Notizen von dieser ersten Begegnung habe ich bis heute aufbewahrt.
Aus der scharfen Winterkälte trat ich durch eine schmale Tür in die warme Küche. Boris Pasternak schüttelte mir beide Hände, als ich mich auf Russisch vorstellte. »Sie sind also der angekündigte Korrespondent aus Westdeutschland«, sagte er auf Russisch, um dann auf Deutsch fortzufahren: »So jung und schon so verdorben.« Das war ein Witz, den er noch aus seiner Studentenzeit in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg kannte. Es war eine unerwartet herzliche und stürmische Begrüßung, ehe seine Frau uns in einen hellen Raum mit großen Fenstern im ersten Stock hinaufführte. Ein Schreibtisch stand darin, dazu ein Kleiderschrank, neben dem ein paar Koffer lagen, einige Holzstühle und ein schmales, dunkel gebeiztes Bücherregal. Da gab es ein großes englisch-russisches Wörterbuch neben einer alten russischen Bibel, und da standen die Werke Franz Kafkas in einer deutschen Ausgabe neben Marcel Proust auf Französisch. »Ich habe Kafka noch nicht gelesen, gerade erst bekommen«, meinte Pasternak. »Ich lese eben Proust. Sehr, sehr schön zuweilen, aber etwas fehlt mir dabei. Aber darüber sprechen wir später.« Und dann begann fast ohne Übergang ein turbulentes Selbstgespräch, der Versuch des Dichters, sein Werk und sein Schaffen zu definieren und abzugrenzen. Die Namen Rilke, Thomas Mann, T.S. Eliot, James Joyce erschienen und verschwanden im Strudel der Vergleiche. »Die Kraft von Thomas Mann und Rilke in einer Person vereint – das wäre ein Kunstwerk.« Thomas Mann, das sei zu viel Experimentalstudio, auch zu viel Essay für literarische Zeitschriften. Aber seine Kunst verbunden mit der Feinfühligkeit und Tiefe, mit dem Sinn jenes Rilke, der den Malte Laurids Brigge schrieb, das
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