Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
wäre etwas! Und was für ein Roman wäre der Ulysses von James Joyce geworden, wenn darin die Klarheit der Erzählung von den Dubliners bewahrt geblieben wäre! Erregt und begeistert sprach Pasternak über die westliche Literatur der zwanziger Jahre, wie er sie selbst erlebt hatte und über die er seit fast drei Jahrzehnten in seinem Heimatland nicht mehr öffentlich reden durfte.
Er sei ein moderner Mensch, so Pasternak, und wenn er auch ein großes Stehpult habe, das an Goethe erinnere, so sei es nur wegen seines Beinleidens aufgestellt. Er müsse in der Formenwelt der Gegenwart schaffen. In Goethes Werk hätten sich alle Strömungen seiner Zeit wiedergefunden, überindividualistisch, überaktuell, nicht nur als persönliches Bekenntnis. Und dann sprachen wir plötzlich von Doktor Schiwago . Er sagte: »Ich bedaure nicht, dass mein Roman im Westen erscheint, aber ich bedaure den Lärm, der darum gemacht wird. Wer hat das Buch eigentlich gelesen? Sie zitieren immer die gleichen drei Seiten aus einem Buch von siebenhundert Seiten.« Pasternak verwahrte sich dagegen, dass man sein Buch wie ein politisches Pamphlet behandelte; in seinen Augen war es mehr als nur eine Anklageschrift gegen die Gesellschaft, in der er lebte.
Im Erdgeschoss neben der Küche saßen inzwischen einige Freunde an der langen weißgedeckten Esszimmertafel. Immer wieder kam der Schriftsteller bei den Trinksprüchen auf die Liebe zu seinem Land zurück. Er wolle nun einen patriotischen Toast ausbringen, sagte Pasternak, und erhob das Wodkaglas: Er müsse seiner Epoche und seinem Land dankbar sein, denn sein Werk und seine Kraft seien von dieser Epoche und diesem Land geformt worden. Er selbst sei ein esoterischer, in Fantasien und Impressionen verlorener Dichter gewesen. Deshalb sei er dem Sowjetstaat dankbar für dessen literarische Erziehungsarbeit. »Ich bin kein sozialistischer Realist geworden«, meinte er. »Nein, ein sozialistischer Realist bin ich nun doch nicht, aber ein Realist bin ich geworden, und dafür bin ich dankbar.« Pasternak lud mich beim Abschied ein, am folgenden Sonntag zum Mittagessen mit seinen Freunden wiederzukommen, aber das war nicht so einfach, wie er es sich vorstellte. Nichts sprach dafür, dass man mir die Sperrzone noch einmal öffnen würde.
Zu meinem Glück hatte ich eine andere Verabredung mit einem Schriftsteller, der ebenso intellektuell wie lebensklug war, Ilja Ehrenburg, der Autor von Tauwetter . Er hatte lange Jahre in Frankreich gelebt, kannte Deutschland und Osteuropa gut und war kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs aus der Emigration in die Sowjetunion zurückgekehrt. Ich hatte ganz offiziell ein Interview mit ihm beantragt und genehmigt bekommen. Wir sprachen über die deutsche Literatur der Weimarer Republik, auch über Camus und Hemingway, überhaupt über die Literatur seiner Generation. Er zählte eine ganze Reihe guter russischer Romane auf, und ich wusste, dass es durchweg Werke von Autoren waren, die von den offiziellen Parteiorganen scharf kritisiert wurden. Auf dem Bücherbord entdeckte ich die deutsche Übersetzung seines Romans Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito . Es stand da auch in Englisch, Französisch, Spanisch und anderen Sprachen. Im übrigen Europa war das Buch ein großer Erfolg gewesen, in der Sowjetunion durfte es nicht erscheinen. Es gefalle mir am besten von all seinen Romanen, sagte ich. Ehrenburg lächelte, Julio Jurenito sei ihm auch sehr lieb. Das Buch sei ein bisschen boshaft, aber sehr amüsant. Es ist die Geschichte eines seltsamen Heiligen, der in Westeuropa Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie predigt, bis all seine Anhänger im Ersten Weltkrieg in nationalen Überschwang und mörderische Kriegslust verfallen. Tief enttäuscht emigriert Julio Jurenito daraufhin in die junge Sowjetunion. Hier hat er nur noch Lob für die kommunistischen Führer, weil sie die Welt richtig behandeln: So wie die Menschen nun einmal seien, verdienten sie strenge Strafen und gewaltsame Unterdrückung. Aber das wollen die neuen Herrscher der Sowjetunion nicht hören, und Julio Jurenito ist nun endgültig desillusioniert. Er kratzt sein letztes Geld zusammen, kauft sich ein Paar neue Winterstiefel, geht bei Einbruch der Dunkelheit auf den großen Boulevard und wird dort am nächsten Morgen tot und ohne Stiefel aufgefunden. Andere Schriftsteller wären mit einem solchen Text in größte Schwierigkeiten geraten. Ehrenburg aber wusste, wie man sich taktisch geschickt
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