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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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verhielt. Als auf einem Schriftstellerkongress eine heftige Debatte über ein anderes seiner Bücher ausbrach, erhob er sich zu einer kurzen Antwort. Das Buch sei seiner Ansicht nach klug und richtig, das habe ihm ein Leser gerade am Abend vorher telefonisch bestätigt. »Aber«, so Ehrenburg, »der Genosse Stalin kann sich vielleicht auch einmal irren.« Es waren solche Tricks, mit denen er sich immer wieder aus der Schusslinie brachte. Manche Kollegen im Schriftstellerverband hassten ihn dafür, andere, besonders unter den Jüngeren, empfanden so etwas wie Bewunderung.
    Als wir über Doktor Schiwago sprachen, fand Ilja Ehrenburg nur lobende Worte. »Pasternak ist einer der größten lebenden Dichter der Welt, auch seine Prosa ist immer Poesie, immer eine Handbreit über der Erde, aber es ist stets große Prosa. Ich habe Doktor Schiwago gelesen, die Beschreibung jener Zeit ist ausgezeichnet. Wir sind Altersgenossen, und ich kann das beurteilen.« Und dann, als er merkte, wie sehr mich sein offenes, positives Urteil über ein schon fast verbotenes Buch überraschte, fügte er hinzu: »Ich habe den Roman gelesen, das Manuskript. Ich bin allerdings noch nicht am Ende, bin gerade bis zur Revolutionsepoche gekommen. Bis dahin, das muss ich wiederholen, ist die Beschreibung jener Zeit ganz ausgezeichnet.« Ehrenburg hatte sich wieder einmal geschickt aus der Affäre gezogen. Vielleicht konnte ich ja von ihm einen Rat bekommen: Pasternak habe mich eingeladen, aber ich glaubte nicht, dass man mir ein zweites Mal einen Besuch genehmigen würde. Ob er es für möglich halte, dass der Schriftstellerverband mich dabei unterstützte? Ehrenburg überlegte. »Wozu brauchen Sie eine neue Genehmigung? Da stand doch nichts von zeitlicher Begrenzung drin, also sollte man annehmen, dass Sie auch ein zweites oder drittes Mal zu Pasternak fahren können.«
    Genau das habe ich dann auch riskiert und bin weiter nach Peredelkino gefahren, allerdings nicht mehr mit einer Mietkarosse von Intourist. Ich fuhr vom Hotel zunächst ein paar Stationen mit der Metro, dann nahm ich ein Taxi zum Weißrussischen Bahnhof und von dort einen Vorortzug zum Stadtrand, um schließlich eine Viertelstunde über Felder und zwischen Kleingärten zu Pasternaks Haus zu wandern. Niemand hielt mich auf, und ich glaubte, niemand habe mich gesehen. Fünfundzwanzig Jahre später nahm mich der Sohn eines KGB -Generals auf einer Cocktailparty zur Seite und überreichte mir einen Umschlag mit einem Foto. Man brauche das nicht mehr, sagte er, und mir würde es vielleicht Freude machen. Das Bild zeigte Pasternak und mich auf einem Waldspaziergang, steil von oben von einem Hochstand oder Baum aus fotografiert. Ich war also keineswegs unbeobachtet und unerkannt geblieben, aber warum ich damals nicht verwarnt wurde, hat mir niemand erklären können.
    Wenn Pasternak und ich allein hinter seinem Haus unter den großen Kiefern spazierengingen, schien es manchmal, als ob ihn Traurigkeit und Selbstzweifel überkämen. Dann erzählte er von der Angst in den Jahren der großen Säuberungen, als Dichter verschwanden oder Kulturfunktionäre unangepassten Schriftstellern Papiere zur Unterschrift vorlegten, die für Kritiker Stalins die Todesstrafe forderten. Ich weiß nicht, ob auch er solche Forderungen unterschrieben hat, aber manchmal schien es ihn zu plagen, dass er sich nicht mutig genug für andere eingesetzt hatte. Einmal habe spätabends das Telefon bei ihm geklingelt. Als er den Hörer abnahm, war er mit Stalin persönlich verbunden. Erst habe er an einen schlechten Scherz geglaubt, aber dann doch verstanden, dass es sich tatsächlich so verhielt. Stalin fragte ihn nach einem anderen Dichter, Ossip Mandelstam, der für seine Lyrik als Abweichler kritisiert worden war. Ob Mandelstam ein großer Dichter sei, habe Stalin wissen wollen. Pasternak erzählte mir, damals sei er nicht für Mandelstam eingetreten. Er habe nur gesagt, man dürfe eine schöne Frau nie nach einer anderen schönen Frau fragen. Nun, viele Jahre später, machte er sich seine Zurückhaltung zum Vorwurf – vielleicht hätte eine entschiedenere Antwort Mandelstam vor dem Tod im Lager bewahrt. Von Pasternaks Frau und seinen Freunden hörte ich zwar, er habe getan, was er konnte. Aber er litt darunter, dass es offenbar nicht genug gewesen war.
    Als mein Gepäck kurze Zeit darauf nach einem Deutschlandbesuch bei der Wiedereinreise am Moskauer Flughafen von Zollbeamten durchsucht wurde, fanden sie in einem Koffer

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