Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Als ich ihn in Selma wiedersah, sagte ich zu ihm, dass die Bewegung nun endlich die notwendige Aufmerksamkeit bekomme. Der Tod des Bostoner Geistlichen habe schließlich ganz Amerika die rohen Methoden der Polizei vor Augen geführt. Carmichael winkte ab: »Natürlich soll das ganze Land erregt sein, wenn einer so umgebracht wird. Aber muss der Tote immer ein Weißer sein, damit das Land es zur Kenntnis nimmt?« Ich fragte ihn, wie es weitergehe, und er hob die Hände. »The Lord has not spoken yet« – »Der Herr hat noch nicht gesprochen«, sagte er und machte damit eines deutlich: Der Herr – Martin Luther King – setzte seiner Ansicht nach der Protestbewegung zu enge Grenzen, wenn er sie zu Gewaltlosigkeit verpflichtete.
Am 21. März 1965 unternahmen die Demonstranten von Selma einen dritten Versuch, nach Montgomery zu gelangen. Diesmal kamen sie nach vier Tagen bis zur Hauptstadt von Alabama durch und schlugen dort ein Protestlager auf. Vier Monate später unterzeichnete Präsident Johnson das neue Wahlrechtsgesetz. Es war ein großer Sieg für die Bürgerrechtsbewegung, denn eine ihrer Hauptforderungen war damit nach langen Jahren heftiger Auseinandersetzungen endlich erfüllt. Nun sollte allen, gleichgültig welcher Hautfarbe, der Zugang zur Wahlurne gesichert sein. Was mir allerdings bereits in Selma aufgefallen war, ließ sich nun immer häufiger in den schwarzen Vierteln anderer Städte beobachten: Unter den jüngeren Leuten wuchs der Abstand zu Martin Luther King, und die Stimmung begann umzuschlagen. Immer mehr junge Schwarze waren in einer Art Uniform zu sehen, manchmal mit Schusswaffen ausgerüstet. Sie schworen bewaffneten Widerstand und Rache. Auch das Studentische Komitee für die Koordinierung des gewaltlosen Widerstands änderte seinen Namen – das Adjektiv »gewaltlos« wurde gestrichen. Gerade in einer Zeit, in der für die Schwarzen eine Verbesserung ihrer Lage näher zu kommen schien, war der Glaube an den Willen der Weißen, die Rassenschranken niederzureißen, bei den meisten jüngeren Leuten geschwunden. Während Martin Luther King nach wie vor das Wort »Neger« benutzte, sprachen sie nunmehr von »Schwarzen« und immer häufiger von »Black Power«, von der Macht der Schwarzen, die sich gegen Politiker, Polizei und Gesetze der Weißen durchsetzen müssten. Die Gruppen waren relativ klein, aber die Anziehungskraft ihrer Parolen war groß. Schwarzer Nationalismus, schwarze Macht, das Recht, sich zu verteidigen – diese neuen Themen bestimmten nun die Diskussion und weckten die Bedenken auch solcher Weißer, die eigentlich für die Überwindung der Rassentrennung eintraten.
Seit Mitte der sechziger Jahre suchte Martin Luther King neue, praktische Ziele für seine Anhänger. Er legte inzwischen der sozialen Gleichstellung ebenso viel Bedeutung bei wie der Gleichberechtigung vor Wahlurne und Gesetz. Die letzten Monate seines Lebens waren von Auseinandersetzungen über die soziale Frage bestimmt. So reiste er Anfang April 1968 nach Memphis, um einen Streik gegen die dortige Stadtverwaltung zu unterstützen. Sechshundert schwarze Müllmänner protestierten dagegen, dass die weißen Angestellten der Müllabfuhr höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen als ihre schwarzen Kollegen bekamen. Martin Luther King hatte in Memphis mit einem Freund und Mitkämpfer ein Zimmer in einem Motel bezogen. Sie standen auf dem Balkon, als aus einer Pension gegenüber ein Schuss fiel. King war getroffen. Als man ihn ins Krankenhaus brachte, war er bereits bewusstlos, eine Stunde später war er tot. Es dauerte Stunden, ehe sich in Memphis herumsprach, dass Martin Luther King umgebracht worden war.
Im Armenviertel von Indianapolis, der Hauptstadt von Indiana, warteten zu dieser Stunde viele Schwarze auf eine Wahlkampfversammlung mit Robert Kennedy, der für seine Nominierung als Präsidentschaftskandidat werben wollte. Ich stand mit einem Kamerateam auf dem Dach eines Reisebusses, von wo aus wir die Ansprache filmen konnten. Kennedy hatte von einem Mitarbeiter die Nachricht vom Attentat auf Martin Luther King erhalten. Nun stand er vor der wartenden Menge, verwundert, weil alle so ruhig blieben. Er ließ den Mann vom Sicherheitsdienst fragen, ob die Menschen schon informiert seien. Der Polizeichef warnte ihn, er solle das Attentat auf keinen Fall erwähnen, weil das unberechenbare Wutausbrüche unter den Zuhörern auslösen könnte. Kennedy ignorierte jedoch die Warnung und verlas ein paar Zeilen, die er
Weitere Kostenlose Bücher