Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Kamera und mit dem Mikrofon in der Hand die Lage zu beschreiben. Plötzlich merkte ich, dass sich hinter mir etwas bewegte und dass die Kollegen und einige Neugierige gebannt in meine Richtung starrten. Erst redete ich weiter, doch dann spürte ich, dass unmittelbar hinter mir jemand stand: ein großer Schwarzer, betrunken und mit einer Schnapsflasche in der Hand. Er drehte sich zu mir, hob die freie Hand und tätschelte mir die Wange. »You are beautiful, baby«, sagte er, wendete sich ab und zog davon. Auf der anderen Straßenseite klatschten einige Passanten, anscheinend ebenso erleichtert wie meine Kollegen und ich.
Einige der schwarzen Zuschauer schimpften, die Brandstiftungen seien tödlicher Wahnsinn; wenn sich dann aber die Feuerwehrmänner einem der brennenden Häuser zu nähern versuchten, fanden sie keine freiwilligen Helfer. Siebzig Häuser brannten in dieser Nacht in Amerikas Hauptstadt. Am nächsten Morgen lag die Innenstadt noch immer unter schwarzem Rauch. Auch wenn es keine neuen Anschläge mehr gab, flackerte immer wieder Glut in den Ruinen auf oder ein benachbartes Gebäude wurde vom Feuer ergriffen. Am Ende rückte die 82. Luftlandedivision ein, Soldaten mit Kampferfahrung in Vietnam, die schon bei Unruhen in Amerikas Automobilstadt Detroit eingesetzt worden waren. Marineinfanterie ging vor den klassischen Säulen des amerikanischen Kongressgebäudes in Stellung. Weite Teile der schwarzen Wohnviertel blieben freilich weiterhin eine Art Niemandsland. Kleine Gruppen von Schuljungen liefen durch die Straßen, schmissen Ziegelsteine in Schaufenster und holten sich, was sie greifen konnten. Mit der Dunkelheit kamen die Erwachsenen und gingen systematischer zu Werke. Ganze Familien mit ihren Kindern kletterten in die Warenhäuser und begannen sich einzukleiden. Junge Männer schleppten Fernsehgeräte durch die Straßen, und aus geplünderten Waffengeschäften stammten die Gewehre, mit denen vereinzelt aus Fenstern auf Polizisten oder Feuerwehrleute geschossen wurde. In den Tagen nach der Ermordung Martin Luther Kings, des Predigers von Gewaltlosigkeit, Gleichberechtigung und Bruderschaft, erlebte die Hauptstadt des mächtigsten Landes der Welt, was Anarchie ist.
Doch nicht nur in Washington kochte die Wut der Schwarzen über. Zwischen Watts in Kalifornien und Newark in New Jersey kam es in schwarzen Wohnvierteln der USA zu über siebzig Gewaltausbrüchen mit Plünderungen, Brandstiftungen, Zusammenstößen und Straßenkämpfen. Ein Teil der schwarzen Bevölkerung schien überzeugt von seinem Recht, die seit der Sklavenzeit unbeglichenen Schulden mit Gewalt eintreiben zu dürfen. An die Wirksamkeit des gewaltlosen politischen Widerstands glaubten sie immer weniger. Auf einer Kundgebung in der Hauptstadt erklärte Stokely Carmichael: »Schämt euch nicht, wenn sich eure schwarzen Brüder mit der Polizei schlagen. Wir müssen dem weißen Mann sagen: Wenn wir unser Recht nicht kriegen, dann habt ihr bald kein Washington mehr.« Solche radikalen Rufe waren jetzt überall zu hören und machten deutlich, dass die Zeit der großen Demonstrationen von Schwarzen und Weißen, die gemeinsam für ein Amerika der Gleichberechtigung eintraten, zu Ende ging.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre nahm der Krieg in Vietnam eine immer größere Rolle in der inneramerikanischen Auseinandersetzung ein. Zu Beginn des Jahrzehnts schien es noch, als interessiere dieser Konflikt im fernen Ostasien nur die Experten im Pentagon und im State Department. Das Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit an den Machtverhältnissen in Vietnam war gering. Kennedys Vorgänger General Eisenhower hatte den Wunsch der Franzosen, US -Truppen zur Unterstützung ihrer Kolonialarmee in Indochina einzusetzen, noch deutlich zurückgewiesen. Falls Amerika in einen Krieg dieser Art hineingezogen würde, so der Ex-General, könne das in einer großen Tragödie enden. Dann wurde die Auseinandersetzung in Vietnam immer mehr zu einem Teil des allgemeinen Ost-West-Konflikts. Der junge Präsident Kennedy fürchtete im ersten Jahr seiner Präsidentschaft, Amerikas Rolle in der Weltpolitik sei durch die Niederlage in Kubas Schweinebucht, den Bau der Berliner Mauer und die gescheiterten Verhandlungen mit Chruschtschow in Wien zum Niedergang verurteilt. Er wollte deshalb der Ausweitung des sowjetischen Einflusses eine klare Grenze setzen. Als der Präsident im Sommer 1961 von den Wiener Gesprächen mit Chruschtschow zurückkehrte, sagte er zu
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