Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Bürger« nannte – Leute, die keinen weißen Geistlichen mit Gewalt aus einer »Negerkirche« jagen würden. Aber, meinte der Bauunternehmer, unter den Geistlichen, die als Agitatoren in die Südstaaten kämen, seien ja auch viele Kommunisten, die die »Neger« aufhetzten.
An dem Tag, an dem unser Team abends in Selma eintraf, hatten wir drei weiße Geistliche als Mitreisende in unserem Wagen. Sie waren in einer größeren Gruppe mit dem Flugzeug aus Detroit gekommen. Um ihnen die Reise nach Selma zu ermöglichen, hatten ihre Gemeinden auf Protestversammlungen Geld gesammelt. Viele aus der Gruppe hatten keinen Mietwagen und kein Hotelzimmer mehr gefunden. Immerhin konnten wir drei von ihnen noch in unseren Wagen quetschen. In Selma war das Zentrum der Bürgerrechtsbewegung nicht schwer zu finden – immer an den Polizeiwagen und den Kolonnen bewaffneter Polizisten entlang, die im Dunkeln am Straßenrand standen. »Das ist wie die Mauer in Berlin«, sagte einer der geistlichen Mitfahrer. Hinter dem Polizeikordon standen kleine Gruppen weißer Bürger von Selma, die verbissen abwarteten, ob sich die »Neger« noch einmal trauen würden, in den weißen Teil der Stadt herüberzukommen. Auf der anderen Seite war die Straße voll von weißen und schwarzen Amerikanern, die diskutierend herumstanden, Cola tranken und auf die Versammlung in der Kirche warteten. Leute mit Schlafsäcken traten aus dem Pfarrhaus, und kleine schwarze Jungen führten sie zu den Wohnungen, in denen sie Unterkunft und Sandwiches finden konnten. Ich fragte einen der Schwarzen, der wie ein Student aussah, wo ich meinen Wagen parken könne, und er beruhigte mich. »Auf dieser Seite ist alles in Ordnung, hier kann dir nichts passieren«, sagte er und legte mir den Arm auf die Schulter. »Dahinten, wo du die Uniformen siehst, fängt es an, für dich gefährlich zu werden. Da sind die Whiteys.«
Es war der 15. März, acht Uhr abends. Im Radio wurde die Übertragung einer Rede Präsident Johnsons angekündigt. Ich drehte die Lautstärke meines Autoradios auf, und sofort war mein Wagen von jungen Leuten umgeben. Sie hingen an den Fenstern, saßen auf der Motorhaube oder dem Kofferraum und hörten aufmerksam zu. Der Präsident sprach an diesem Tag vor den Abgeordneten des US -Kongresses, aber es war keine Rede für Parlamentarier, sondern ein emotionaler politischer Aufruf an das ganze amerikanische Volk und vielleicht die beste Rede, die Johnson je gehalten hat. »Selbst wenn wir dieses Gesetz durchbringen, wird die Schlacht noch nicht vorbei sein«, sagte er. »Was sich in Selma vollzieht, ist Teil einer weit größeren Bewegung, die in jeden Bereich und jeden Staat Amerikas hineinreicht. Es ist der Wille amerikanischer Neger, sich die Teilnahme an allen Segnungen des amerikanischen Lebens zu sichern. Ihre Sache muss auch unsere Sache sein. Denn es sind nicht nur die Neger, sondern in Wahrheit sind es wir alle, die das lähmende Erbe der Bigotterie und Ungerechtigkeit überwinden müssen. Und wir werden es überwinden.«
»We shall overcome« – da war sie wieder, die Zeile aus dem altenglischen Kirchenlied, das ich 1950 an der Highlander Folk School zum ersten Mal gehört hatte und das mittlerweile zur Hymne des gewaltlosen Widerstands geworden war. Doch ich merkte, dass die jungen Schwarzen, die sich um mein Auto drängten, weder überzeugt noch begeistert auf die Rede des Präsidenten reagierten. Die Bürgerrechtsbewegung war über zehn Jahre lang unter der Führung schwarzer Geistlicher auf gewaltlosen Widerstand eingeschworen worden. Nun hatte ein Teil der jüngeren Generation offenbar die Geduld verloren. Es waren nicht mehr nur Leute aus dem schwarzen Mittelstand und den Kirchengemeinden, die für mehr Rechte eintraten, sondern eine neue Generation, die härter zuschlagen wollte.
Einer der Organisatoren der Demonstrationen von Selma kam zu mir ans Auto. Stokely Carmichael hatte ich schon einmal 1964 bei einem der ersten Sitzstreiks getroffen, mit dem er und zehn Freunde gegen den Besitzer eines Fried-Chicken-Restaurants protestierten, weil der keine Schwarzen bedienen wollte. Der Wirt hatte daraufhin seine weißen Gäste mit Axtstielen bewaffnet, und Polizisten hatten die Schwarzen auf die Straße gedrängt. Es war damals einer der ersten Proteste dieser Art gewesen. Carmichael hatte dann mit Freunden das Student Nonviolent Coordinating Committee ( SNCC ) gegründet, das Studentische Komitee für die Koordinierung des gewaltlosen Widerstands.
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