Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
der Highlander Folk School ein paar Minuten Zeit für mich, um mir neben Auszügen aus Reden Johnsons auch Hinweise auf dessen Kernüberzeugungen und Pläne zu geben. So hatte ich schließlich doch etwas Neues, das ich nach Deutschland mitbringen konnte.
Bevor ich noch am selben Tag nach Köln weiterflog, legte ich einen kurzen Zwischenstopp in New York ein, wo einer meiner ARD -Kollegen weitere Filme für mich besorgt hatte. Hinter uns im New Yorker ARD -Studio lief der Fernseher mit einer Liveübertragung. Wir hörten, dass der Mann, der als Mordverdächtiger verhaftet worden war, gerade im Gefängnis in einen Polizeiwagen gebracht werden sollte. Dann war ein Schuss zu hören und eine Stimme, die sagte: »Er ist tot. Lee Harvey Oswald ist erschossen.« Auf dem Bildschirm sahen wir einige Reporter, die einander beiseiteschubsten, dann den Körper von Oswald und ein wildes Gedränge von Menschen, die sich auf einen anderen Mann stürzten. Es war der Attentäter, der Oswald erschossen hatte. Er hieß Jack Ruby und betrieb einen Nachtclub in Dallas. Mehr wussten wir nicht, als ich weiter zum Flughafen fuhr und mich schließlich in die Maschine nach Deutschland setzte. Später habe ich mehrfach die Biografien der beiden Schützen durchforscht und wie viele andere vergeblich versucht, die Geschehnisse zu verstehen, die diese Tage zu den erschreckendsten und verwirrendsten der amerikanischen Geschichte machten.
Seine Wahl zum Präsidenten hatte John F. Kennedy nicht zuletzt seinen erfolgreichen Fernsehauftritten zu verdanken, die ihn für viele Amerikaner und Europäer zum Star gemacht hatten. Nun verdankte das Fernsehen dem toten Präsidenten die bis dahin zuschauerreichste und dramatischste Fernsehübertragung der Welt. 1,8 Milliarden Menschen verfolgten einen Trauerzug und eine Beisetzung, wie sie Amerika größer und bewegender noch nicht erlebt hatte – und nie wieder erleben sollte. Unzählige Kameras lieferten die Bilder dazu: den rührenden Augenblick, in dem John John, Kennedys Sohn, vor der Saint-Matthews-Kirche am Sarg seines Vaters militärisch salutierte; die Witwe Jacqueline, die würdig und gefasst und zugleich menschlich anrührend die ewige Flamme am Sarg entzündete; Robert Kennedy, von dem Reporter in ihren Kommentaren sagten, er bewege sich wie ein Schlafwandler durch die Bilder.
Die amerikanischen Fernsehstationen hatten gleich nach dem Attentat ihre Programme unterbrochen. Die bekanntesten Moderatoren erschienen innerhalb von Minuten auf dem Bildschirm. Walter Cronkite, der große alte Mann unter den Nachrichtenstars, lief ins Studio, unterbrach eine Soap Opera und sprach mitten in den Satz einer Schauspielerin hinein: »Bulletin. In Dallas wurden drei Schüsse auf Präsident Kennedy abgegeben. Nach ersten Berichten ist der Präsident ernsthaft verwundet. Er sackte zusammen und fiel in den Schoß von Mrs Kennedy. Sie rief ›Nein, oh nein‹ und der Wagen mit dem Präsidenten fuhr weiter. Die Verletzung kann tödlich sein.« An dieser Stelle schalteten die Techniker von CBS in das reguläre Programm zurück. Diese Sondersendungen hatten eine völlig neue Qualität. Hier belehrten keine Moderatoren in wohlgesetzten Worten. Auf allen Kanälen mussten die Sprecher vielmehr Vorgänge des Augenblicks schildern und etwas erklären, auf das sie nicht vorbereitet waren und dessen weiteren Verlauf sie nicht erahnen konnten.
Eine Woche nach Kennedys Tod zog der neue Präsident Lyndon Johnson ins Weiße Haus. Die Amerikaner waren nach dem Attentat bestürzt und verunsichert, aber Johnson zeigte ihnen, dass das Land trotz aller Erschütterung mit fester Hand und klaren Zielsetzungen geführt werden konnte. Er gab zu erkennen, dass er in vielen Bereichen Entscheidungen erzwingen könnte, die sein Vorgänger zwar auch ins Auge gefasst hatte, aber nicht umsetzen konnte: die Einführung der Krankenversicherung, eine bessere Finanzierung des Bildungswesens, der Kampf gegen Armut und Verbrechen, die Förderung der Stadterneuerung. Der neue Präsident brachte viele solcher Projekte durch den Kongress, dessen Mitglieder eigentlich von tiefstem Misstrauen gegen eine derartige sozialreformerische Politik erfüllt waren. Doch Johnson kannte nicht nur die Spielregeln, sondern auch die Tricks der parlamentarischen Politik. So gelang es ihm auch, die selbstbewussten Südstaatengouverneure auf seine Seite zu ziehen, indem er sie mit großen Geldgebern aus dem Norden zusammenführte, die dann für Investitionen im Rahmen
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