Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
auf einem Zettel notiert hatte: King sei getötet worden, weil er sich für Liebe und Gerechtigkeit unter den Menschen eingesetzt habe. »Denjenigen von euch, die Schwarze sind und die nun von Hass und Misstrauen gegen die Ungerechtigkeit der Weißen, aller Weißen, erfüllt sind, will ich nur eines sagen: Ich kenne dieses Gefühl aus meinem eigenen Herzen. Ein Mitglied meiner Familie wurde getötet, aber auch ihn tötete ein weißer Mann.« Kennedys einfache und bewegende Rede erreichte seine schwarzen Zuhörer. Anders als der weiße Polizeichef befürchtet hatte, gab es keine zornigen Reaktionen, sondern nur Klagen und Trauer.
Wir nahmen am nächsten Morgen die erste Maschine nach Memphis. Dort hatten sich ein paar Hundert Menschen vor einem Beerdigungsinstitut im Viertel der Schwarzen versammelt. Die Trauerfeier sollte in Martin Luther Kings Heimatstadt Atlanta stattfinden, aber wenigstens den Sarg wollten die Schwarzen von Memphis sehen. In der Menge war kein einziger Weißer zu entdecken. Kein Bürgermeister, kein Stadtrat, kein Abgeordneter und kein Vertreter des Gouverneurs war erschienen. Dafür haben sich dann am Flughafen von Memphis weiße Polizisten postiert, ausgerüstet mit Gewehren, Maschinenpistolen, Schrotflinten, Schutzhelmen und Schlagstöcken. Manche hatten eine Zigarette im Mund, und man konnte ihnen ansehen, dass sie alles eher für einen politischen Unfall als für eine Tragödie hielten. Eine kleine Gruppe von Schwarzen, die sich durch die Polizeisperre gedrängt hatte, sang »We shall overcome«, als der Sarg zum Flugzeug gebracht wurde. Martin Luther Kings Frau Coretta blieb währenddessen in der Maschine, die Robert Kennedy am Abend zuvor für sie gechartert hatte und die schließlich sie und ihren toten Mann nach Atlanta brachte.
Am späten Nachmittag kamen wir wieder nach Washington, wo das Nachspiel der Tragödie begann. In der Hauptstadt, die von manchen Weißen bereits Chocolate City genannt wurde, waren zwei Drittel der Einwohner Schwarze – deutlich nach Stadtvierteln von den Weißen getrennt, ein Teil inzwischen vergleichsweise wohlhabend, aber insgesamt doch ärmer als die Weißen. Junge Schwarze, die nie recht an das Prinzip der Gewaltlosigkeit geglaubt hatten, gingen nun auf die Straße, schlugen Schaufenster ein und nahmen sich, was sie wollten. Polizeiposten an Straßenübergängen warnten uns Weiße, aber sie hinderten mich und mein Kamerateam nicht daran weiterzugehen. Zwei Straßenzüge vom Weißen Haus entfernt stießen wir bereits auf die ersten Gruppen Schwarzer, die sich in den Auslagen bedienten. Hier, unmittelbar am Rande des Regierungsviertels, durfte die Polizei nicht zulassen, dass sich die Plünderer zu großen Gruppen formierten und dass Bilder von ihnen vor dem Hintergrund des Weißen Hauses um die Welt gingen. Die Sicherheitskräfte griffen daher schnell und gründlich ein. Tränengas vertrieb die Randalierer.
Die Kräfte der Polizei waren allerdings zu schwach, um die Ordnung in der ganzen Stadt aufrechtzuerhalten. Ein paar Straßen weiter sah ich Häuser, die in Flammen standen, nachdem junge Schwarze Benzinflaschen mit brennender Lunte vom Auto aus in die Schaufenster geschleudert hatten. In dieser Nacht erblickte man in den Wohngebieten der Schwarzen den Himmel nicht mehr vor lauter Funkenflug und Qualm. Junge Leute rannten von Laden zu Laden und schlugen Scheiben ein. Währenddessen standen schwarze Familien auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schauten zu. Die Weißen wiederum – oft Ladenbesitzer – blieben am Rande der Unruhezone, redeten halblaut miteinander und zogen schließlich resigniert ab. Ich versuchte mit dem Kamerateam, die Straße zu überqueren, doch wir wurden von jungen Schwarzen angehalten. Einer von ihnen hörte, wie der Kameramann und ich uns unterhielten. Ob wir Deutsche seien, wollte er nun wissen. Er sei als Besatzungssoldat in Deutschland gewesen, und wir sollten jetzt einmal laut und deutlich in unserer Muttersprache reden, damit er feststellen könne, ob wir nicht doch getarnte Amerikaner seien. Schließlich war er mit unserer Aussprache zufrieden und winkte uns durch. »Sagt allen, dass ihr Deutsche seid. Gesperrt ist hier für die amerikanische Presse.« Es schien, als gebe es eine Art Kommandoebene unter den Schwarzen, aber der Eindruck täuschte – bei den Leuten, die Geschäfte plünderten, war keinerlei Organisation zu erkennen. Ich stellte mich vor ein zerschlagenes Schaufenster und versuchte, vor laufender
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