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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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kleinste Detail eingehen, das ihr euch ins Gedächtnis rufen könnt – und trotzdem wird am Ende längst nicht alles erzählt sein. Langsam, langsam», beschwichtigte er Stan, der schon anfing, seine Geschichte zu erzählen, «du musst ganz ruhig und entspannt sein.» Und während wir durch die Dunkelheit brausten, tauchte Stan tief in die Geschichte seines Lebens ein. Angefangen hatte er mit seinen Erlebnissen in Frankreich, aber um sich nicht in Komplikationen zu verstricken, kehrte er zum Anfang zurück und begann mit seiner Kindheit in Denver. Er und Dean verglichen, wie oft sie einander auf dem Fahrrad hatten herumsausen sehen. «Das eine Mal hast du vergessen, aber ich weiß es noch – die Arapahoe-Garage, erinnerst du dich? Ich habe dir an der Straßenecke einen Ball nachgeworfen, und du hast ihn mit der Faust zurückgeschlagen, und er landete im Abwasserkanal. Volksschultage. Erinnerst du dich jetzt?» Stan war nervös und fiebrig. Er wollte Dean alles erzählen. Dean war jetzt Schiedsrichter, alter Herr, oberster Richter, Zuhörer, der Beifall klatschte und mit dem Kopf nickte. «Ja, ja, weiter, bitte, weiter.» Wir kamen durch Walsenburg, und plötzlich fuhren wir durch Trinidad, wo Chad King jetzt irgendwo abseits der Straße an einem Lagerfeuer saß, mit vielleicht einer Handvoll Anthropologen, und wie einst erzählte sicher auch er gerade seine Lebensgeschichte und ließ sich nicht träumen, dass wir genau in diesem Moment auf dem Highway vorbeifuhren, unterwegs nach Mexiko, und uns unsere eigenen Geschichten erzählten. O traurige amerikanische Nacht! Dann waren wir in New Mexico und kamen an den runden Felskegeln von Raton vorbei und hielten an einem Diner, mit wahrem Heißhunger auf Hamburger, von denen wir ein paar in eine Serviette wickelten, um sie später hinter der Grenze zu essen. «Der ganze Staat Texas liegt der Länge nach vor uns, Sal», sagte Dean. «Vor einiger Zeit haben wir ihn der Breite nach durchquert. Das ist genauso weit. In ein paar Minuten sind wir in Texas, und erst morgen um diese Zeit werden wir wieder draußen sein, ohne dass wir die Fahrt unterbrechen. Stell dir das vor.»
    Wir fuhren weiter. Jenseits der endlosen nächtlichen Prärie lag Dalhart, die erste Stadt in Texas, durch die ich 1947 gekommen war. Schimmernd lag sie auf dem dunklen Grund der Erde, noch achtzig Kilometer entfernt. Im Mondlicht schien das Land nur aus Mesquitesträuchern und Einöde zu bestehen. Über dem Horizont lag der Mond. Er wurde dicker, wurde immer größer und rostigrot, er verblasste und rollte davon, während der Morgenstern das Feld behauptete und erste Tautropfen durch unsere Fenster wehten – und immer noch fuhren wir weiter. Hinter Dalhart, einer menschenleeren Schuhschachtelstadt, bretterten wir Amarillo entgegen und erreichten es am Vormittag: Es lag inmitten windgepeitschten Steppengrases, das vor wenigen Jahren noch eine Ansammlung von Büffelhautzelten umwogte. Jetzt gab es hier Tankstellen und neue Musikboxen, Baujahr ’50, mit riesigen protzigen Fassaden und Zehn-Cent-Schlitzen und scheußlichen Schlagern. Den ganzen Weg von Amarillo nach Childress hämmerten Dean und ich die Handlung von Büchern, die wir gelesen hatten, in Stans Kopf hinein – er hatte selber danach gefragt, weil er es wissen wollte. Bei Childress bogen wir in der Sonnenhitze direkt nach Süden ab und karriolten auf einer schmaleren Straße durch endlose Einöden weiter nach Paducah, Guthrie und Abilene, Texas. Dean musste jetzt schlafen, und Stan und ich stiegen nach vorn und übernahmen das Steuer. Die alte Kiste glühte und kämpfte sich holpernd vorwärts. In mächtigen Wolken wehte ein sandiger Wind aus schimmernden Weiten. Stan fuhr und erzählte drauflos, Geschichten von Monte Carlo und Cagnes-sur-Mer und den blauen Dörfern bei Menton, wo dunkelhäutige Menschen an weißen Mauern entlangschritten.
    Texas ist unverkennbar: Wir dampften langsam nach Abilene rein, und alle erwachten, um es sich anzusehen. «Stell dir vor, du lebst in diesem Kaff, tausend Kilometer von jeder richtigen Stadt entfernt. Hoho! Da drüben an den Bahngleisen das alte Abilene, wo einst die Kühe verladen wurden und man sich Feuergefechte mit den Cops lieferte und schwarzgebrannten Fusel soff. Aufgepasst, wir kommen!», schrie Dean aus dem Fenster, den Mund verzerrt wie W. C. Fields. Texas war ihm genauso egal wie jede andere Gegend. Rotgesichtige Texaner, die ihn nicht beachteten, eilten auf glühenden Bürgersteigen dahin.

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