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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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sich nur um einen Schatten, um Haaresbreite ändert, sobald du den Mississippi überquerst.» Nun ja, direkt vor uns ging so ein einsamer Bursche, denn Shephards Mutter war eine wunderbare Frau, sie ließ ihren Sohn nicht gerne fort, aber sie wusste, dass er fort musste. Mir war klar, dass er auf der Flucht vor seinem Großvater war. Darin passten wir drei gut zusammen – Dean, der auf der Suche nach seinem Vater war, ich mit meinem toten Vater und Stan, der vor dem Alten floh. Und so liefen wir zusammen in die Nacht. Mitten im Gedränge auf der 17th Street gab Stan seiner Mutter einen Kuss, und sie stieg in ein Taxi und winkte uns nach: Goodby, goodby.
    Vor Babes Haus stiegen wir ins Auto und nahmen Abschied von ihr. Tim wollte bis zum Stadtrand, wo er wohnte, mit uns fahren. Babe war wunderschön an diesem Tag; ihr Haar war lang und blond und schwedisch, und ihre Sommersprossen traten im Sonnenlicht hervor. Sie sah genauso aus wie das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war. Ihre Augen waren von Tränen verschleiert. Sie hätte später mit Tim nachkommen können – aber sie tat es nicht. Goodby, goodby.
    Wir brausten los. Tim ließen wir draußen vor der Stadt in seinem Garten am Rande der Prärie zurück, und ich drehte mich um und sah, wie Tim Gray in der Ebene allmählich verschwand. Der sonderbare Kerl stand volle zwei Minuten da und sah uns davonfahren und hing Gott allein weiß welchen traurigen Gedanken nach. Er wurde kleiner und kleiner und stand immer noch regungslos da, die eine Hand an einer Wäscheleine, wie ein Kapitän auf einem Schiff, und ich verrenkte mir den Hals, um Tim Gray zu sehen, bis nichts mehr da war als eine wachsende Abwesenheit im Raum, und der Raum war der Blick ostwärts, nach Kansas, und führte immer weiter zurück bis nach Atlantis, wo ich zu Hause war.
    Wir richteten die klapprige Schnauze unseres Autos nach Süden und fuhren nach Castle Rock, Colorado, während die Sonne sich rötete und die Felsenberge im Westen aussahen wie eine Brauerei in Brooklyn im Abendrot im November. Hoch in den purpurnen Schatten der Felsen wanderte jemand dahin, ein Wanderer, aber wir konnten ihn nicht gut sehen; vielleicht war es der alte Weißhaarige, den ich vor Jahren hoch oben in den Gipfeln geahnt hatte. Der Zacatecen-Greis. Doch er näherte sich mir, wenn er auch immer hinter mir blieb. Und Denver versank weit hinter uns wie die Stadt aus Salz, die Rauchfahnen zerfaserten in der Luft und entschwanden unseren Blicken.

vier
    Es war Mai. Wie aber können die friedlichen Nachmittage Colorados, mit seinen Farmen und Bewässerungsgräben und schattigen Schluchten – die Stellen, wo kleine Jungen schwimmen gehen –, ein Insekt hervorbringen wie jenes, das Stan Shephard stach? Er ließ den Arm aus der kaputten Tür baumeln und rollte fröhlich redend dahin, als plötzlich ein Insekt auf seinen Arm flog und einen langen Stachel hineinsenkte, der ihn aufheulen ließ. Das Insekt war aus einem amerikanischen Nachmittag gekommen. Er fuhr zusammen, klatschte auf seinen Arm und zog den Stachel heraus, und nach ein paar Minuten war sein Arm angeschwollen und schmerzte. Dean und ich konnten uns nicht vorstellen, was es war. Man konnte nur abwarten und sehen, ob die Schwellung zurückging. Da waren wir nun, unterwegs in fremde südliche Länder, und kaum drei Meilen hinter der Heimatstadt, der armen alten Stadt der Kindheit, erhob sich ein sonderbares, fiebriges, exotisches Insekt aus unergründlicher Fäulnis und sandte Furcht in unsere Herzen. «Was ist das?»
    «Ich hab noch von keinem Insekt in dieser Gegend gehört, das eine solche Schwellung hervorrufen kann.»
    «Verdammt!» Die Reise schien düster und verhängnisvoll anzufangen. Wir fuhren weiter. Stans Arm wurde schlimmer. Wir wollten beim ersten Krankenhaus halten und ihm eine Penizillinspritze verabreichen lassen. Wir kamen durch Castle Rock und erreichten bei anbrechender Dunkelheit Colorado Springs. Zu unserer Rechten ragten die hohen Schatten des Pike’s Peak auf. Wir fuhren auf dem Highway nach Pueblo. «Hier bin ich schon tausend Mal getrampt», sagte Dean. «Einmal habe ich mich in der Nacht hinter dem Drahtzaun da drüben versteckt, als ich es ohne jeden Grund mit der Angst zu tun bekam.»
    Wir beschlossen, uns gegenseitig unsere Geschichten zu erzählen, einer nach dem anderen, und Stan war als Erster an der Reihe. «Wir haben einen weiten Weg vor uns», schickte Dean voraus, «darum müsst ihr in aller Ausführlichkeit auf jedes

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