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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Ich wollte nach Hause.
    Dies war die Nacht des Geistes vom Susquehanna-Fluss. Der Geist war ein verschrumpeltes altes Männchen mit einer Papiertasche, der behauptete, er sei nach «Canady» unterwegs. Er schritt rasch drauflos und befahl mir, ihm zu folgen. Er sagte, da vorn sei eine Brücke, auf der wir hinüberkönnten. Er war etwa sechzig Jahre alt; er redete unaufhörlich von dem Essen, das er bekommen hatte, wie viel Butter man ihm auf die Pfannkuchen gegeben hatte, wie viel Extrabrotscheiben, und wie die Alten ihm von der Veranda eines Wohlfahrtsheims in Maryland nachgerufen und ihn eingeladen hätten, übers Wochenende zu bleiben, und wie er ein schönes heißes Bad genommen hatte, bevor er gegangen war; wie er am Straßenrand in Virginia einen nagelneuen Hut gefunden hatte, den er jetzt auf dem Kopf trug; wie er in jeder Stadt beim Roten Kreuz vorsprach und ihnen seine Urkunden aus dem Ersten Weltkrieg zeigte; und dass das Rote Kreuz in Harrisburg seinen Namen nicht verdiene; wie er zurechtkam in dieser harten Welt. Aber soweit ich sehen konnte, war er nur ein halbwegs respektabler Landstreicher, der die gesamte Wildnis des Ostens zu Fuß durchquerte und in den Büros des Roten Kreuzes vorsprach und manchmal an belebten Straßenecken um einen Dime bettelte. Beide waren wir Bettler. Elf Kilometer wanderten wir den traurigen Susquehanna entlang. Es ist ein unheimlicher Fluss. Die mit Büschen bewachsenen Klippen auf beiden Seiten beugen sich wie struppige Gespenster über das unergründliche Wasser. Und all dies in tintenschwarze Nacht gehüllt. Manchmal steigt von den Eisenbahngleisen jenseits des Flusses ein mächtiges rotes Flackern aus Lokomotiven auf, das die schaurigen Klippen beleuchtet. Der kleine Alte sagte, er hätte einen schönen Gürtel in seiner Papiertasche, und wir blieben stehen, damit er ihn rausholen konnte. «Muss hier doch irgendwo ’nen schönen Gürtel haben – hab ich mir in Frederick, Maryland, besorgt. O verdammt, hab ich das Ding etwa auf der Ladentheke in Fredericksburg liegenlassen?»
    «Sie meinen Frederick?»
    «Nein, nein, Fredericksburg, Virginia !» Dauernd redete er von Frederick, Maryland, und Fredericksburg, Virginia. Er ging meist mitten auf der Straße, mitten im rollenden Verkehr, und wurde ein paarmal fast angefahren. Ich stapfte am Straßengraben entlang. Jeden Moment erwartete ich den armen kleinen Irren als Leiche durch die Luft fliegen zu sehen. Die Brücke fanden wir nie. Ich ließ ihn an einer Eisenbahnunterführung zurück, und weil ich vom Wandern so schwitzte, wechselte ich mein Hemd und zog zwei dünne Pullover übereinander. Aus einer Raststätte fiel Licht auf meine traurigen Bemühungen. Eine ganze Familie kam auf der finsteren Straße daher und wunderte sich, was ich da machte. Und das seltsamste war ein Tenorsaxophonist, der in dieser entlegenen pennsylvanischen Hütte einen sehr schönen Blues blies. Ich lauschte und seufzte. Es fing stärker an zu regnen. Ein Mann nahm mich mit nach Harrisburg und sagte mir, ich sei auf der falschen Straße. Plötzlich sah ich den kleinen Landstreicher unter einer trostlosen Straßenlaterne stehen und den Daumen hochrecken – armer verlassener Mann, armer verirrter Tippelbruder aus fernen Zeiten, jetzt abgerissener Geist der Wildnis des Elends. Ich erzählte dem Fahrer die Geschichte, und er hielt, um dem Alten Bescheid zu sagen.
    «Hören Sie, Mann, hier sind Sie unterwegs nach Westen, nicht nach Osten.»
    «He?», sagte der kleine Geist. «Mir könn’ Sie nichts erzählen, ich kenn mich hier aus. Wandere schon seit Jahren durch diese Gegend. Bin unterwegs nach Canady.»
    «Aber das ist nicht die Straße nach Kanada, das ist die Straße nach Pittsburgh und Chicago.» Das Männchen hatte von uns die Nase voll und wandte sich ab. Das Letzte, was ich von ihm sah, war seine schaukelnde weiße Tasche, die sich im Dunkel der traurigen Alleghenies auflöste.
    Ich hatte immer geglaubt, die Wildnis Amerikas liege im Westen, bis der Geist vom Susquehanna mich eines anderen belehrte. Nein, es gibt auch im Osten eine Wildnis, die Wildnis, durch die Ben Franklin in den Tagen der Ochsenfuhrwerke stapfte, als er Postmeister war, dieselbe Wildnis wie damals, als George Washington ein Draufgänger im Kampf gegen Indianer war, als Daniel Boone im Schein pennsylvanischer Laternen seine Geschichten erzählte und versprach, die Passage nach Westen zu finden, als Bradford seine Straße baute und johlende Männer in Blockhütten tranken.

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