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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Stadtbücherei, benannt nach Enrico Fermi, hing ein Foto an der Wand, das den Wissenschaftler mit einem frühen Modell der Atombombe zeigte. Vorjahren hatte sich Albert darin gefallen, gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem großen Fermi zu sehen. Krankheit in frühen Kindertagen, Heirat mit einer Jüdin, die Wissenschaft selbst natürlich, kulturelles Erbe – die zulässige Anwandlung italienischen Stolzes, nur in seinem Fall nicht so aufwallend, nicht mit solcher Zerstörung verbunden. Damals war die Bücherei ein Filmtheater gewesen, von der Jugend des Viertels wegen des säuerlichen Geruchs und der herumliegenden Abfälle nur Die Müllkippe genannt. Man sollte nie vergessen, daß sich einige Dinge doch zum Besseren entwickeln, dachte er. Und jetzt Bücher, die Stille durchnumerierter Regale.
    Er schlenderte zu dem Nachbarschaftstreff, wo er manchmal Karten spielte, seltener als früher, und ab und zu ein Glas Wein trank. Einige Bilder an der Wand, alte Tage, Fischhändler mit Schürzen und Kappen, Kellner vor einem Restaurant, mit messerscharf gezogenem Scheitel, von der Zeit geadelt. Er hörte die Kirchenglocke von Mount Carmel, einen halben Block entfernt, und goß sich ein Glas Roten ein. Er saß allein an einem Resopaltisch und vertiefte sich in die Nasen des Weines, die Rinnsale der geschwenkten Flüssigkeit, die an der Innenseite des Glases hinablaufen und einem sagen, wieviel Körper der Wein hat. Nasen heißen sie, aber eigentlich sahen sie aus wie Beine. Dieser Wein hatte Beine. Er bestand nur aus Beinen. Er hatte die Beine eines Sumoringers.
    Das Videoband lief im Fernseher, der in der Ecke aufgestellt war. Er hatte es erst einmal gesehen, ebenfalls hier, und er wußte, sie würden es senden, bis jedermann auf dem Planeten es gesehen hatte. Und wenn sie es nach einem Intervall, in dem es nicht gelaufen war, wieder bringen würden, wußte er, daß der Schütze wieder jemand erschossen hatte, jemand Neues, und weil es keinen Film, kein Video des neuen Mordes gab, mußten sie eben das alte Band zeigen, das einzige Band, und sie würden es bis in den letzten Winkel der Erde zeigen.
    Steve kam herüber, Silvera, einer der Silvera-Brüder, er trug einen Anzug und fuhr einen Leichenwagen. Albert fragte ihn immer, Na, wer ist gestorben?
    »Du trinkst diesen Wein?«
    »Ich hab versucht, mit ihm zu reden, aber das wollte nicht so recht«, sagte Albert. »Setz dich zu mir, trink mit.«
    »Ich hab 'ne Bestattung.«
    »Wer ist gestorben?«
    »Wie heißt er gleich, vom Fischmarkt.«
    »Beerdigung oder Einäscherung?«
    »Heutzutage kommen sie in eine Wand. Ist ganz beliebt.«
    »Kryptische Bestattung«, sagte Albert voller Befriedigung.
    Als die Kirchenglocke wieder läutete, rannte Steve hinaus. Albert lehnte sich ein Stück vor und konnte sehen, wie die anderen Fahrer und Sargträger ihre Zigaretten ausdrückten und die Treppe hinaufgingen. Beinahe Zeit, den Sarg hinauszutragen. Noch ein Fischhändler, noch ein Foto, das in Jahrzehnten aussehen wird wie das Emblem einer gewissen stattlichen Unschuld, einer alten, verlorenen, süßschmeckenden Zeit. Wie das Gedächtnis mit Gegenständen von Menschenhand konspiriert, um die Zeit flachzuwalzen und zärtliche Erinnerungen wachzurufen.
    Später ging er in die leere Kirche und saß in der letzten Reihe, um einen Augenblick allein mit Eddie Robles zu verbringen. Eine Taube flog durch das Querschiff und landete auf dem Rand eines Drehfensters in der Nähe des Opferkerzentisches. Er bewunderte diese alte Kirche. Korinthische Säulen und Nischenheilige. Brennende Kerzen in rosigen Glasbehältern. Das Viertel verändert sich, die Kirche bleibt gleich. In den Tagen nach Eddies Messe begriff er erneut, wie der Verlust eines Freundes, wie jeder Verlust ein Aspekt von Klaras Fortgehen war, die Schockwirkung und Verwüstung wiederholte.
    Die Taube war von neuem in der Luft, flatterte oben in der Kuppel herum. Er glaubte sich zu erinnern, daß der Heilige Geist die Gestalt einer Taube annahm, oder nicht? Jeder Geist ist wahrscheinlich heilig, aber bevor ich auf die Knie falle, muß man mir erst einen zeigen, dachte er. Trotzdem saß er gern allein hier, sinnierte und trauerte inmitten der Architektur und ihrer Einzelheiten, des Glaubens in Stein und Holz, der in Glas gemischten Pigmente.
    Als Klara ihn verließ, brach etwas los, ein Toben, eine unartikulierte Stimme, die so verschiedene und verworrene und ineinander-geblutete Gefühle heraufbeschwor, jeglicher Unterscheidung

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