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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Eddie Robles mit einem Mini-Schachspiel, der um zwei Uhr morgens in seiner Token-Kabine Schachzüge übt, und man braucht nicht zu glauben, daß etwa keiner seinen Kopf zur Kabine reinsteckte und ihn zu einer Partie aufforderte, und man braucht ebensowenig zu denken, daß er etwa nicht darauf einging, denn er tat es, hinter fünf Schichten kugelsicherem Glas, während die Züge in der Nacht vorbeifegten.
    »Ich habe nie gedacht, heute ist der Tag, wo sie mich ausrauben. Diesen Gedanken hatte ich nie. Und es ist auch nie passiert. Einmal hat mir eine Frau in den Schlitz gekotzt. Für mich persönlich war das der schlimmste Vorfall. Ich habe nie gedacht, was würdest du tun, wenn sie versuchen, dich auszurauben. Ich ging nach der Psychologie, wenn man damit rechnet, dann passiert es auch. Die hat ihre Hand auf die Ablage gelegt, und schon kam's raus.«
    »Mitten in der Nacht?«
    »Nur sie und ich. Wenn du schon kotzen mußt, warum nicht auf die Gleise? Sie und ich allein auf dem Bahnhof, sie kommt direkt rüber, als wäre der Münzschlitz bloß dafür erfunden worden.«
    Er stöpselte die Haarschneidemaschine ein und rasierte Eddies Nacken. Er fuhr unter das Handtuch und den Hemdkragen und schnitt das Haar, das von den Schultern nach oben wuchs. Er rasierte den Nacken ganz aus und fegte ihn mit der Bürste ab und bat Mercedes um etwas Talkumpuder, das war das einzige, was er nicht in seiner Zigarrenkiste hatte, und er notierte sich im Geist, beim Einkaufen daran zu denken, fürs nächste Mal.
    Bestattung im Weltraum. Er dachte an die Kondensstreifen an jenem blauen Tag, draußen auf dem Meer, vor zwei Jahren, falls es zwei Jahre waren – wie die Zündstufen auseinandersegelten und den furchtbaren Buchstaben Yin die Luft hängten. Der Dampf hielt sich eine Zeitlang, die Astronauten waren ins Meer gestürzt und blieben doch dort oben, in gefrorenen Rauch gemeißelt, und er lag nachts wach und sah den tiefen atlantischen Himmel und dachte, was für ein würdevoller, reiner Tod, eine erhabene Angelegenheit, der Übergang des gequälten Körpers in Dampf und Flammen, hoch über der Welt, ein Monogramm, Y wie young für jene, die jung sterben.
    Er war sich nicht sicher, daß die Leute das sehen wollten. Das Versagen der Systeme und das Leiden der Menschen sehen wollten. Aber die Schönheit, der hohe Glauben an den Weltraum, wie konnten solche Werte mit dem Tod verknüpft sein? Sieben Männer und Frauen. Ihre Schönheit und unsere, enthüllt in einer gescheiterten Mission, wie wir sie in hundert Triumphen nicht gesehen haben. Apotheose . J a, sie waren von göttlichem Format, durch jene Schwanenstreifen in die einzige Art von Göttern verwandelt, die er anerkennen wollte, poetisch und flüchtig. Er fand dieses Erlebnis noch weitaus ergreifender als den ersten Mondspaziergang. Das war aufwühlend, aber auch ein bißchen walkie-talkie-artig, mit spukhafter Action und computergesteuert aussehenden Bewegungen, und er konnte den Verdacht der paranoiden Elite, der alten grauen Gurkhas im Korps, nie ganz abtun, irgendwer hätte das Ganze auf einer Ranch bei Las Vegas inszeniert.
    Im Frühjahr waren sie immer noch da, Albert und Laura. Wie war das möglich, daß nicht irgendeine unheilvolle Krankheit seine Schwester befallen hatte? Man sitzt da, man läßt seinen Körper schwach und schlaff werden, man bewegt sich nicht, man sieht keine Leute, geht nicht unter Menschen oder spürt die Blutzufuhr eines beharrlichen Interesses.
    Doch er war dankbar für ihre Anwesenheit. Es hatte immer eine Frau in seiner Nähe gegeben, mindestens eine Frau, eine Frau oder ein Mädchen, die das Bad mit ihm teilten, die Küche, vor langer Zeit das Bett. Er brauchte diese Gesellschaft. Frauen und ihr Stolz auf die Zeit, ihr tatkräftiger Sinn für die Zukunft. Er heiratete eine Jüdin und liebte sie, aber Klaras Zukunft schloß ihn nicht ein. Er pflegte seine Mutter, eine Katholikin von alter Beredsamkeit, sie trug ein Skapulier, bekreuzigte sich und berührte ihren Daumenknöchel mit den Lippen, und er liebte sie und sah sie sterben. Er erzog seine Tochter dazu, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und ein wertvoller Mensch außerhalb der willfährigen Erfüllung religiöser Riten zu sein, und er liebte sie, heute lebt sie in Vermont, sehr. Seine Schwester, die in die Vergangenheit hineintrudelte und wieder heraus, ihn aber stets gespenstisch genau kannte, stracks in sein schlichtes Herz schaute, seine Schwester liebte er aus all den gestammelten

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