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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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richterlicher Klaps auf den Handrücken.
    Er legte drei Tabletten neben seinen Teller auf den Tisch, zur Einnahme aufgereiht. Herzpille, Furzpille, Leberpille.
    Er verbrachte mehr Zeit drinnen, wenn Leute auf den Korridoren waren. Er hatte auf dem Treppenabsatz im ersten Stock eine Einwegspritze gesehen, und jetzt waren da Leute auf den Korridoren, geschäftig und untätig zugleich, geschäftig im Innern ihrer Augen, aber auch körpertot, kaum imstande, eine Hand durch die Luft zu hieven. Wenn es aufhört zu regnen, dachte er, dann gehen sie auf die Spielplätze oder in die Baulücken. Und der Fahrstuhl steckte zwischen den Etagen fest, da war er sowieso besser dran, wenn er die Wohnung gar nicht verließ, denn Treppensteigen war für ihn nicht besonders angeraten.
    Er zog ihr die Brille von der Nase, putzte sie mit einem Tuch und setzte sie ihr wieder auf.
    Und wenn er ausging, waren sie auf den Stufen vor der Haustür und murmelten irgend etwas, das so klang wie Wall Street, bis Albert schließlich annahm, sie hätten eine Heroinsorte dieses Namens zu verkaufen, Wall Streetz Wall Street, und er konnte sie auf den Korridoren hören, Fremde im Haus, die ein- und ausatmeten.
    Er sagte ihr, er rufe seine Tochter Teresa an, Ferngespräch. Er kündigte jedes Telefonat an, damit Laura immer einbezogen war, auch bei Wetter und Uhrzeit, und weil er gern Ankündigungen machte.
    Seine Tochter leitete eine Kindertagesstätte in einer Kleinstadt und hatte Ausgaben und selber zwei Kinder und einen entgleisten Ehemann, der gerade einen Neuanfang versuchte, und Albert schickte ihr ab und zu etwas Geld, das er von seiner Lehrerrente abzweigte.
    Ein Ferngespräch war ein genau zu bedenkendes Unterfangen, was seine Konzentration eine wesentlich längere Zeitspanne beanspruchte als der Anruf selbst. Er plante einen ganzen Abend drum herum, wartete auf den Zeitpunkt des Tarifwechsels, stellte einen Stuhl neben den Apparat und arbeitete die Nummer sorgfältig ein, die Nase in der Wählscheibe.
    Er hörte sie auf den Korridoren atmen und wußte, er hatte Essen für ach, mit Leichtigkeit zwei Tage, und wenn die Milch sauer würde, konnte er eine Dose Pfirsiche aufmachen und die Früchte und den Sirupsaft über seine Frühstückscornflakes schütten. Kernhaftend, das Fruchtfleisch haftete am Kern, am Stein, wie bei Pfirsichen. Er hörte sie spätnachts und wußte, er konnte das Hackfleisch strecken, die Tomatensuppe mit Makkaroni auffüllen, die wohnten ja nicht im Haus und würden schon einen anderen Ort finden.
    Wenn seine Tochter an den Apparat kam, schaute er quer durchs Zimmer zu Laura hinüber und nickte – Kontakt aufgenommen, das Jahrhundert des Fortschritts marschiert voran.
    Apfel und Käse, sie hatten Apfel und Käse, das allein war schon eine Mahlzeit.
    Er brachte ein Buch in die Bücherei zurück, in einem anderen Frühling oder Frühsommer, an einem mildherzigen Tag, und er sah eine vertraute Gestalt über die Straße und auf das Kloster zugehen, das zur katholischen High School gehörte. Von alters her vertraut, eine Gestalt aus dem Land der Vergangenheit. Ihm war nicht klar gewesen, daß sie noch lebte, Schwester Edgar, wie erstaunlich, dasselbe messerscharfe Gesicht, dieselben knochigen Hände, hastig, eine hagere Figur, umgeben von raschelnden Gewändern. Sie trug die traditionelle Tracht mit langem schwarzen Schleier und weißem Brusttuch und gestärktem Tuch über Nacken und Schultern, dazu ein eisernes Kruzifix, das von der Taille baumelte – als wäre sie dem Gemälde eines Meisters aus dem 16. Jahrhundert entstiegen.
    Er beobachtete, wie sie die Tür zum Kloster öffnete und verschwand. Diese Nonne war berüchtigt gewesen, weil sie unter den Kindern der fünften oder sechsten Klasse hellen Schrecken verbreitete, berüchtigt für Schläge, Schelte und Nachsitzen oder daß sie sie bei Gewitter losschickte, um die Tafellappen auszuklopfen. Er hatte nie ein Wort mit Schwester Edgar gewechselt, verspürte aber fast das Bedürfnis, heute an die Klostertür zu klopfen und mit ihr zu sprechen, nach all den Jahren herauszufinden, wer sie eigentlich war. Er war stolz darauf gewesen, an einer öffentlichen Schule zu unterrichten, egal, wie lax die Disziplin war. Er hatte unter menschlichen Kollegen gearbeitet und so manche Geschichte von dieser Nonne und ihren routinemäßigen Grausamkeiten gehört.
    Mittlerweile benutzte er einen Gehstock, und das gab ihm ein Gefühl, als wäre er ein emeritierter Professor. In der

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