Unterwelt

versuchte, nach oben in den Säulengang zu gehen und mit den Jungs und Mädchen zu reden, die dort standen – aber nein, die kannten ihn nicht und waren nicht interessiert. Warum war er dann hergekommen? Der alte plumpe Haufen aus Kalkstein und Ziegeln enthielt sein Lehrersein, eine Million Worte in die laue Luft gesponnen, und es gab keinen Grund anzunehmen, daß er diesen Weg noch einmal gehen mußte. Ein dokumentarischer Blick, um das Bild festzuhalten. Er ging einmal um den Block und machte sich auf den Heimweg.
    Auf einer der kahlen Straßen begegnete ihm ein großer, streunender Hund, der krank aussah, nur Rippen und gesprenkelter Sabber, und er schlängelte sich an ihm vorbei. In einer Kultur der Wachhunde gibt es immer ein paar, die in Ungnade fallen und am Ende die Straßen heimsuchen. Der Trick ist, dem Tier auszuweichen, ohne sich seine Angst anmerken zu lassen. Festina lente. Eile mit Weile.
    Er putzte die Fensterbretter mit einem feuchten Lappen, Fliegenflügel, Fliegenteile, die zerkrümelten Hüllen glasiger grüner Käfer.
    Er hatte seine Lehrerrente und eine kleine, steuerfrei verrentete Lebensversicherung, außerdem ein altes Sparbuch, die Zinsen in heimeligen, gräulichen Lettern eingebucht.
    Die Jahreszeiten liefen ineinander, die Jahre waren verblüffend verwischt. Wie die Zeit in Büchern. In Büchern vergeht die Zeit im Laufe eines Satzes, viele Monate und Jahre. Schreib ein Wort, überspring ein Jahrzehnt. Gar nicht so anders hier draußen, in seinem Alter, in der Welt ohne Randbereiche.
    Er legte eine Schallplatte auf den Plattenteller, und Laura saß in ihrem Sessel, schien die Musik weniger zu hören als zu sehen.
    Brot war verläßlich, Brot zu fast jeder Mahlzeit, Brot frisch aus den Ziegelöfen. Er stapelte die Bücher aus der Bücherei neben dem Brotkasten, damit er sie auch pünktlich zum Abgabedatum zurückbrachte.
    »Ziehen wir um, Albert?«
    »Nein. Wir gehen nirgendwohin.«
    »Jemand hat mir erzählt, ich weiß nicht mehr, daß wir umziehen.«
    »Vielleicht besuchen wir Teresa wieder. Wir nehmen den Bus. Es ist eine wunderschöne Fahrt. Sonst zieht's uns nirgendwohin.«
    »Hattest du mir gesagt, daß du ausgehen wolltest?«
    »Die Fahrt wird dir gefallen. Vermont. Wir fahren, wenn sich die Blätter verfärben. Dann gefällt es dir.«
    »Albert.«
    »Was?«
    »Wenn du es mir sagst, dann weiß ich Bescheid.«
    Jahreszeiten und Jahre. Laura las einen Überblick der Seifenopern, um die Figuren aus dem Fernsehen weiterzuverfolgen, obwohl der Fernseher schon so lange kaputt war, daß er zu einem anderen Leben zu gehören schien.
    Haferbrei blubberte auf dem Herd.
    Er kam herbei, nahm ihr die Brille ab und putzte sie mit einem Tuch, dann setzte er sie ihr wieder auf die Nase.

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8
    D ie alte Nonne stand bei Tagesanbruch auf, alle Gelenke taten ihr weh. Sie war seit ihrer Zeit als Postulantin bei Tagesanbruch aufgestanden und hatte zum Gebet stets auf harten Holzböden gekniet. Zuerst zog sie die Jalousie hoch. Da draußen ist die Schöpfung, kleine grüne Äpfel und ansteckende Krankheiten. Dann kniete sie sich in die Falten des weißen Nachthemds, unendlich oft gewaschener Stoff, mit aufgeschäumter Seife geschlagen und dann knorplig und steif gelassen. Schwester Alma Edgar. Und der Körper darunter, dieses spindeldürre Ding, das sie durch die Welt trug, größtenteils kreidebleich, gesprenkelte Hände mit erhabenen Adern, kurzgeschorenes Haar, fein und flachsgrau, und ihre Augen aus blauem Stahl – so manchem Jungen und Mädchen von einst erschienen diese Gucker im Traum.
    Sie bekreuzigte sich, murmelte die passenden Worte. Amen, ein gar altes Wort, aufs Griechische und Hebräische zurückgehend, wahrlich – das verbreitetste der Alltagsgebete, und doch brachte es drei Jahre Ablaß, sieben, wenn man die Hand in Weihwasser taucht, bevor man den Körper zeichnet.
    Das Gebet ist eine Strategie der Praxis, es schafft einen zeitlichen Vorteil auf den Kapitalmärkten von Sünde und Vergebung.
    Sie sprach ein Morgengebet und erhob sich. Am Waschbecken schrubbte sie sich die Hände mehrmals mit grober brauner Seife. Wie können die Hände sauber sein, wenn es die Seife nicht ist? Diese Frage blieb in ihrem Leben beharrlich offen. Doch wenn man die Seife mit Bleichmittel reinigt, womit macht man dann die Bleichmittelflasche sauber? Wenn man diese mit Scheuerpulver bearbeitet, was nimmt man dann für die Ajaxdose? Bakterien haben Persönlichkeiten. Verschiedene Gegenstände beinhalten