Unterwelt
Gründen, warum man seine Schwester liebt, und weil sie ihr Leben auf einige wenige Bemerkungen verengt hatte, die er rührend fand.
Er hatte ein tragbares Grammophon, früher flott, von fortschrittlichem Design. Jetzt sah es fad und plump aus, spielte aber nach all den Jahren immer noch Musik. Er fand die Schallplatte, nach der er gesucht hatte, reinigte das Vinyl mit einem behandelten Stück Stoff und legte es wie eine Hostie auf die Spindel. Saint-Saens, Klavierwerke, sanft und nachdenklich, Rhythmuswechsel nach dem göttlichen Aufruhr von Bronzinis Opern, der leidenschaftlichen Empfindung, die Teetassen zerspringen läßt. Er wandte sich um, ob Laura auch da war, formlos im Armstuhl, den Kopf an den handgestrickten Sesselschoner gelehnt, das Gesicht zu den Akkorden erhoben. Er drehte den Schalter und beobachtete, wie sich der Tonarm hob und die Schallplatte senkte, ein ruckelndes Herabgleiten auf den Plattenteller. Dann verschob sich der Tonarm seitwärts, die Scheibe begann sich zu drehen, und diese Serie mühevoll verbundener Vorgänge, ihre Geräusche und Pausen, ihr Getorkel und ihre albernen Verzögerungen schienen ihn in ein untergegangenes mechanisches Zeitalter zu versetzen, mit Pendeluhren und von Hand angekurbelten Automobilen.
Die Nadel verschandelte ein paar Noten, aber daran war er gewöhnt. Er saß am Rande des Raums, wo er die Küchensonne spüren und Lauras Gesicht anschauen konnte. Die Musik gesellte sich von der Seite zu ihnen. Er glaubte daran, daß er Lauras Traumwelt betreten konnte. Er konnte sie kennenlernen, beinahe kennenlernen, ihre Unschuld durch die Musik spüren, das Mädchen wieder kennenlernen, die altjüngferliche Zwölfjährige, die auf der Straße hinter ihren Eltern herging, er konnte sie im Gesicht der düsteren älteren Schwester sehen, fast war das Mädchen wieder da, in den Hautsäcken und Flecken und dem rauchgrauen Haar. In einem der Stücke gab es nach Übergangspassagen voll milder Erinnerung einen kurzen Moment, da etwas Finsteres hinzuzukommen schien, die linke Hand des Solisten trieb das Tempo an, und das zog ihren Arm in die Höhe, langsam, eine halb schockhafte Bewegung, nachdenklich und bedeutungsschwer – sie hatte eine Vorahnung in den Baßnoten gehört, die sie aufschreckte. Das war das andere, das sie gemeinsam hatten, die Traurigkeit und Klarheit der Zeit, Zeit, die in der Musik betrauert wurde – wie der Klang, die gestalteten Schwingungen, hervorgerufen von Hämmerchen, die Drahtsaiten anschlugen, sie beide mit einem merkwürdigen Kummer erfüllte, nicht über einzelne Dinge, sondern über die Zeit selbst, das greifbare Gefühl eines Jahres oder Zeitalters, das Gewebe ungemessener Zeit, mittlerweile für sie beide verloren, und Laura wandte sich ab, blickte an ihrer erhobenen Hand vorbei in etwas Transparentes hinein, das er wohl ihr Leben nennen durfte.
»Du mußt es mir sagen, Albert, wenn du weggehst. Dann weiß ich Bescheid.«
»Ich hab es dir gesagt.«
»Du sagst es mir nie.«
»Tu ich wohl.«
»Ich weiß nicht, ob du es vergißt oder was der Grund ist.«
»Ich sag es dir.«
»Wenn du es mir sagst, dann weiß ich Bescheid.«
»Ich sag es dir. Ich werde es dir ganz bestimmt sagen.«
»Aber ich vergesse es, oder?«
»Manchmal schon.«
»Du sagst es mir, und ich vergesse es.«
»Manchmal. Es macht nichts.«
»Aber du mußt es mir sagen.«
»Das werde ich. Ich werde es dir sagen.«
»Damit ich nämlich Bescheid weiß«, sagte sie.
Er trank morgens seinen Kaffee schwarz mit einem Schuß Rye, einem Fingerhutvoll, einem Tröpfchen, und mit Anisette am Nachmittag oder frühen Abend, einem Schluck, einem Schwups von dem Lakritzsaft, und dann vielleicht noch einen perlenden Zungenkitzel Rye vorm Zubettgehen, diesmal ohne Kaffee, natürlich vom Arzt verboten, aber nur ein winziges Tröpfchen, ein abgemessenes Gläschen, das hurtigste Schlückchen in der Geschichte des schuldbewußten Trinkens.
»Du mußt es mir sagen. Damit ich Bescheid weiß.«
»Ich sag es dir. Ich verspreche es.«
»Damit ich Bescheid weiß.«
»Damit du Bescheid weißt.«
»Wenn du es mir sagst, dann weiß ich Bescheid.«
»Stimmt.«
»Stimmt doch, oder?«
»Doch, stimmt.«
»Aber du mußt es mir sagen. Nur dann weiß ich Bescheid.«
Er putzte das Fensterbrett in der Küche, Staub, Haar, Fliegenköpfe, abgeblätterter Putz – steinige kleine Bröckchen.
Wenn sie zusammen Abendessen kochten, schlug sie Albert jedesmal auf die Hand, wenn er ihr im Weg war, ein
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