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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Miene zu verziehen: »Ich habe Erfahrung in PR.«
    Detwiler reckte das Kinn, um zu zeigen, daß ihn diese Bemerkung womöglich eine Spur amüsierte. Er hatte die besonnene Selbstsicherheit eines Industrie-Eigenbrötlers, eines Außenseiters, der den Laden aufzumischen versucht, indem er jede selbstgefällige Glaubensregel durch den Kakao zieht. Und er wirkte wie neu gemacht, neu ausgerüstet, rasierter Kopf und buschiger Schnurrbart, ein Kerl, der alles im Griff hat, mit Fitneßtrainer und einem hübschen Dispo-Kredit, im schwarzen Rollkragenpulli und Designerjeans. Einmal abgesehen davon, daß sein Kopf gerupft aussah, hätte er, wie mir einfiel, auch ein Swinger sein können.
    »Ich will dir mal sagen, was ich hier sehe, Sims. Die Szenerie der Zukunft. Irgendwann die einzige, die übrig ist. Je giftiger der Müll, desto größer Mühe und Kosten, die ein Tourist auf sich nehmen wird, um den Ort besichtigen zu können. Nur finde ich nicht, daß man diese Orte isolieren sollte. Den giftigsten Müll isolieren, das ja. Dadurch wird er großartiger, bedeutungsvoller, magischer. Aber gewöhnlicher Hausmüll sollte in den Städten, wo er entsteht, gelagert werden. Bringt den Müll an die Öffentlickeit. Die Leute sollen ihn sehen und respektieren. Versteckt eure Müllanlagen nicht. Baut eine Architektur des Mülls. Entwerft traumhafte Gebäude, um Müll zu recyceln, ladet die Leute ein, ihre eigenen Abfälle zu sammeln und an die Preßrampen und Förderbänder zu bringen. Lerne deinen Müll kennen. Und das heiße Zeug, die chemischen, die atomaren Abfälle werden zu einer fernen Landschaft der Nostalgie. Bustouren und Postkarten, jede Wette.«
    Sims wußte nicht recht, ob ihm das gefiel.
    »Was für eine Nostalgie?«
    »Unterschätze unsere Fähigkeit zu komplexen Sehnsüchten nicht. Nostalgie nach den verbotenen Materialien der Zivilisation, nach der rohen Gewalt alter Industrien und alter Konflikte.«
    Detwiler war in den sechziger Jahren eine Randfigur gewesen, ein Müll-Guerillero, der den Hausmüll von einer Reihe berühmter Leute stahl und analysierte. Ergab Pseudo-Komintern-Manifeste über dessen Inhalt heraus, mit persönlichen Seitenhieben gespickt, und die Untergrundpresse druckte das Zeug im Nu nach. Seine Aktivitäten erfuhren einen harschen Höhepunkt, als er verhaftet wurde, weil er den Müll von J. Edgar Hoover hinter dem Haus des Direktors in Nordwest-Washington geklaut hatte, und daran dachte man, dachte auch ich sofort, als ich den Namen Jesse Detwiler zum ersten Mal wieder hörte. Er hatte sich einen kurzen, fiebrigen Ruhm in der Zeitgeschichte erworben, war ein Teil der umherziehenden Bande aus Majoretten und Bombenbauern, Levitationskünstlern und Acidschluckern und verlorenen Kindern gewesen.
    Ein Vogel überflog die Weite des Kraters, Fink oder Zaunkönig, mit der nervösen Flinkheit, der Dringlichkeit des Sonnenuntergangs.
    Detwiler erklärte uns, daß die Städte Zentimeter um Zentimeter auf dem Müll wuchsen, über die Jahrzehnte an Höhe gewannen, je mehr Abfall vergraben wurde. Müll war immer übereinandergeschichtet oder an die Ränder geschoben worden, sei es in einem geschlossenen Raum oder in der Landschaft. Aber er hatte auch seine eigene Dynamik. Er schob zurück. Er schob sich in jeden verfügbaren Zwischenraum, diktierte Baumuster und veränderte Ritualsysteme. Und er brachte Ratten und Paranoia hervor. Die Menschen waren gezwungen, eine organisierte Reaktion darauf zu entwickeln. Das heißt, sie mußten sich findige Wege der Beseitigung einfallen lassen und eine Sozialstruktur für die Ausführung aufbauen – Arbeiter, Manager, Müllmänner, Straßenkehrer. Die Zivilisation wird aufgebaut, die Geschichte angetrieben – So redete er, talkshowmäßig, konzentriert, einstudiert, unverbindlich verbindlich. Er war eine Müllhyäne, auf der Suche nach Buchverträgen und Dokumentarfilmen, und ich glaube, es war ihm egal, ob ihm zwei Leute zuhörten oder eine halbe Million.
    »Bei uns läuft nämlich alles umgekehrt«, sagte er.
    Die Zivilisation wuchs und blühte nicht etwa dadurch, daß Männer Jagdszenen auf Bronzetore hämmerten und unter dem Sternenhimmel Philosophisches flüsterten, während Müll als widerliche Nebenerscheinung betrachtet wurde, wisch und weg. Nein, zuerst wuchs der Müll und regte die Menschen an, eine Zivilisation aufzubauen – als Reaktion, als Selbstverteidigung. Wir mußten Wege finden, um unseren Müll loszuwerden, um zu nutzen, was wir nicht loswerden

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