Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
langen Schlangen, die um die Ecken der hohen Treppen biegen, und sie lachen und singen.
    Er sieht flatternde Fahnen auf dem Stadiondach und die World-Series-Flagge, die oben an der Außenwand aufgehängt ist. Er sieht Feuer auf dem Asphalt, die haben Feuer in 55-Gallonen-Tonnen gemacht, und er ist ziemlich sprachlos über die Massen von Menschen, die um diese nachtschlafene Zeit Eintrittskarten kaufen wollen. Sein Mund hängt ein Stück offen, und er reißt verdattert die Augen auf. Er schlendert selbst zu der Menge, fühlt sich hineingezogen und ehrlich glücklich, unter ihnen zu sein, und sie haben Essen und Stühle dabei, geflochtene Strandstühle, die sich leicht zusammenklappen lassen, und sie haben Schlafsäcke auf den Rücken geschnallt, ein Dutzend Studenten mit kurzgeschorenen Haaren, und sie lassen Thermosflaschen herumgehen, aus denen es dampft, wenn man den Deckel abschraubt, starker Kaffee, um sie wach und warm zu halten.
    Er sieht Väter und Söhne, die sich an den Feuern wärmen, Menschenmassen, wenn man sie zählen könnte, und berittene Polizei auf Pferden, die Wölkchen hervorschnauben, und er spürt ein seltenes Glücksgefühl, ein Dabeiseinwollen, und er wird mitgerissen, mit sperrangelweit offenem Mund, denn es ist toll anzusehen, und sie singen röhrende Schlachtenlieder, auf der Straße hin- und herwogend mit ihrem Draufgängerhumor, all diese Baseballfans, die zur Kassenschlange streben, um zwei oder drei Uhr morgens oder wie spät es wirklich ist.
    Manx trägt eine Armbanduhr, die vor sechs Wochen stehengeblieben ist. Dieser Tatsache wird er seine Aufmerksamkeit widmen, sobald sein Leben wieder in regelmäßigen Bahnen verläuft.

[Menü]
1
    E s war der Dachterrassen-Sommer, Drinks oder Dinner, ein keilförmiger Garten mit einem schmiedeeisernen Tisch, an dessen geschwungenen Beinen der Oxydbrand wuchert, und vielleicht sind das alte französische Rosen, die an der Schornsteinkappe hochranken, diese Sorte heißt Maiden's Blush, oder eine lange Terrasse mit Schieferboden und Birken in Kupferwannen und das Gelächter von einem Dutzend Leute, das klein und köstlich in der Nacht ertönt, über die kalte Suppe hinweg zu Dachluken und Kuppeln und Wassertanks schwebt, oder ein eiliger Lunch, ein alter Freund, Strandstühle und chinesisches Essen zum Mitnehmen, und wie buttrig die Löwenmäulchen in der Sonne duften.
    Das war Klara Saxens Sommer auf dem Dach. Sie entdeckte eine versteckte Stadt über dem Gitternetz aus Fieberstraßen. Walk und Don't Walk. Zehn Millionen hüpfende Köpfe, unterwegs oberhalb der Gezeitenlinie der Taxistreifen, jeder auf einer anderen Wellenlänge, jawohl, in den Straßen wimmelt es von Idiosynkrasien, von menschlichen Windungen und Wendungen, aber wer das Ganze anders sehen will, in Stein und Erz konserviert, der muß aufs Dach. Sie schaute in den Himmel, wo sich Ventilatoren und Antennen drängten, und dann plötzlich eine Überraschung, eine unerklärliche Geste, die auffällt. Engel mit Schmetterlingsflügeln, unter ein Gesims in der Bleecker Street gekauert. Oder das rätselhafte weiße Holzhäuschen auf dem Dach eines Bürogebäudes. Oder die seltsamen Art-Deco-Köpfe, irgendwie osterinselhaft, die an den Ecken eines Turms in Midtown kleben. Sie fand diese Dinge ermutigend, zu Dutzenden hingen sie unsigniert herum, die Brückenkabel in der Ferne und ab und zu ein brausender Himmel, die falschen Sommergewitter.
    Sie war jetzt vierundfünfzig, die Zahl muß man sich mal durch den Kopf poltern lassen – vierundfünfzig und zwischen zwei Projekten und menschlich unsichtbar und kurz davor, wieder an die Arbeit zu gehen, zu schaffen und zu formen und zu gestalten und zu bauen.
    Das World Trade Center war im Bau, schon turmhoch, doppelturmhoch, an den Spitzen ragten schräg die Kräne auf, Arbeitsfahrstühle glitten an den Flanken hoch. Sie sah es fast überall, wo sie hinging. Sie aß etwas, trank ein Glas Wein, ging ans Geländer oder Sims, und normalerweise war es da, emporgewachsen am Trichterende der Insel, und früh eines Abends stand ein Mann neben ihr, Drinks auf dem Dach eines Galeriegebäudes – etwa sechzig, dachte sie, stattlich und mit kräftigen Kiefern, aber auf seine Art auch geschmeidig, selbstsicher und beherrscht und hartpoliert, substantieller Typus, Europäer.
    »Ich nehme es als eins wahr, nicht zwei«, sagte sie, »obwohl ganz deutlich zwei Türme dastehen. Es ist doch eine Einheit, oder?«
    »Ganz furchtbares Ding, aber man muß einfach

Weitere Kostenlose Bücher